Eigentlich ist die Geschichte, die uns Ewald Arenz in seinem Roman erzählt, schon ein kleines bisschen kitschig. Aber sie ist so wunderschön, so poetisch erzählt, da sind das bisschen Kitsch und Rührseligkeit ganz egal. Und eigentlich sind die Protagonisten dieser Geschichte gar nicht die beiden Frauen, Liss und Sally, sondern die Birnen und Äpfel, die Trauben und die Nüsse, die Hühner, Rehe und die schwere, dunkle, fruchtbare Erde, die Düfte und Gerüche und die Geräusche des Lebens auf dem Land.
Liss, eine schweigsame Frau mittleren Alters, die ganz allein einen Bauernhof betreibt, mit Weinberg, Obstgarten, Hühnerstall und Schnapsbrennerei, ist selbstständig und stark, aber sehr verschlossen, mit wenig bis gar keinem Kontakt zu Nachbarn und Dorfbewohnern, von denen die meisten sie komplett schneiden.
Eines Tages läuft ihr Sally zu, ein junges Mädchen kurz vor dem Abitur, abgehauen aus einer Klinik, aggressiv, mit jedem und allem Feind, verstört und voller Ablehnung besonders Erwachsenen gegenüber. Regeln und Vorschriften sind nicht ihr Ding, Fragen beantwortet sie mit derben Schimpfwörtern, von jedem fühlt sie sich angegriffen.
Doch Liss ist anders als andere Erwachsene. Sie fragt nicht, sie urteilt nicht, sie bewertet nicht und sie setzt keine Regeln. Liss nimmt Sally bei sich auf und statt nur eine Nacht bleibt Sally mehrere Wochen. Und nach und nach wandelt sich nicht nur ihr Verhältnis, auch beide Frauen ändern sich im Umgang miteinander.
Sally lernt von Liss die Pflege der Bienen, der Hühner und der Obstbäume. Liss kennt viele alte Birnensorten und kann Sally deren Geschichten erzählen. Und Sally schmeckt die Birnen und darin findet sie viel mehr als nur den Geschmack von Obst: „Es war schwer, ein Wort für diese Mischung aus fest und zergehend zu finden, die das Fleisch im Mund hatte. Und sie meinte, das Rot süßer zu schmecken und im Weiß eine winzige Spur Bitterkeit, und zusammen war es ein Geschmack, der … vielleicht würde Sonnenlicht so schmecken, wenn es nach einem langen Sommer durch das weite Blau des Himmels und dann durch das alte Grün hoher Bäume direkt auf die Zunge fiele.“ (S. 114).
Im Laufe der Zeit kommen die beiden Frauen sich näher, lernen mehr über die Vergangenheit, die Geheimnisse und Verletzungen der Anderen. Sally wird ruhiger, sie beginnt, das Leben auf dem Hof zu lieben. Und Liss wird weicher, offener. Doch erst als es fast zu einer Katastrophe kommt, erfährt Sally Liss‘ ganze Geschichte.
Wie Ewald Arenz die langsame, tastende Veränderung von Sally beschreibt, wie behutsam er diese Änderung aufbaut, so dass sie in jedem Moment nachvollziehbar und verständlich ist, das ist voller Sensibilität, voller Mitgefühl für dieses zerrissene Mädchen. Gleichermaßen gelingt es ihm, den verschlossenen, selbstzerfleischenden Charakter von Liss mit großer Empathie, mit Freundlichkeit und ohne Urteil darzustellen.
Dabei ist die gesamte Handlung eingebettet in zart gezeichnete, einfühlsame, fast lyrische Beschreibungen der Landschaft, der Bäume und Rebstöcke, der Tiere und der Früchte. Wenn Sally bei der Weinlese hilft und eine fast gefrorene Traube in den Mund steckt, hat die Leserin das Gefühl, in diesem Moment selbst auf die Frucht zu beißen. Ganz langsam, gemächlich fast, erzählt der Autor die Geschichte der beiden unterschiedlichen und sich gleichzeitig so sehr ähnelnden Frauen. Und doch ist diese Geschichte zugleich fesselnd und hochspannend.
Ein Roman perfekt für den Herbst. Man sollte bei der Lektüre einen Teller mit Äpfeln und Birnen neben sich stehen haben. Und sei es nur, um den Duft einzuatmen.
Ewald Arenz: Alte Sorten
DuMont, Juli 2020
Taschenbuch, 255 Seiten, 10,00 €