Schon wieder ein erstaunliches Debüt. Andreas Wagner, der aus der Region stammt, über die er schreibt, erzählt uns eine Geschichte über Flucht und Vertreibung, über Heimatverlust und Heimatsuche und er erzählt die Geschichte des Braunkohletagebaus zwischen Aachen und Köln. Der Autor hat dabei einen ganz eigenwilligen Stil, manchmal tiefgründig, manchmal mystisch, mal skurril und mal hochspannend.
Leonore Klimkeit flieht in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs „so weit nach Westen wie möglich“. Sie gibt vor, 21 Jahre alt zu sein, obgleich sie viele Jahre jünger ist, als sie Ostpreußen verlassen muss und schließlich nach einer zwei Jahre währenden Flucht in dem kleinen Ort Lich-Steinstraß in der Nähe von Jülich landet. Trotz der sehr heftigen und viele Jahre anhaltenden Ablehnung durch die Dorfbewohner als „Flüchtling“ findet sie Aufnahme bei Hannes Immerath und seiner Mutter. Hannes, oder Jean, wie er genannt wird, ist der Bäcker des Dorfes. Im Laufe der Jahre übernimmt Leonore nach und nach die Arbeit von Jean und erbt schließlich seinen Laden und die Backstube.
Sie bringt einen unehelichen Sohn, Paul, zur Welt, was zu noch mehr Ausgrenzung im Ort führt. Leonore fühlt sich so richtig heimisch nur, wenn sie im Wald ist. Der riesige und uralte Bürgewald schenkt ihr Geborgenheit und Zuflucht. Hier kann sie träumen und „schweben“, hier findet sie Ruhe und Kraft.
Doch auch diese Heimat ist bedroht. Der ganze Ort muss, wie so viele andere auch, schließlich umgesiedelt werden, denn die Braunkohle, die in der Erde ruht, soll im Tagebau gefördert werden. Das bedeutet auch das Ende für Leonores geliebten Wald. Leonore und der inzwischen erwachsene Paul wehren sich lange, doch irgendwann müssen auch sie aufgeben und die Bäckerei und ihr Haus verkaufen. Paul findet Arbeit bei Rheinbraun, dem Tagebauunternehmen. Er heiratet und seine beiden Kindern Jan und Sarah wachsen im Schatten der riesigen Grube heran.
Und am Ende stehen sich diese Beiden als Gegner gegenüber. Jan sitzt in dem gigantischen Schaufelradbagger, während Sarah sich den Waldbesetzern und Umweltaktivisten anschließt.
Diese drei Zeitebenen – die Nachkriegszeit, die 60-er und 70-er Jahre, in denen Paul heranwächst und schließlich die Gegenwart mit den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Kohlegewinnung – sind geschickt in unterschiedlichen Stilen verfasst. Man könnte auch sagen, im Laufe der Jahrzehnte nimmt die Geschichte Fahrt auf. Denn vor allem im ersten Teil gibt es einige Längen, hängt die Spannung manchmal ein wenig durch, verliert sich der Autor für meinen Geschmack etwas zu sehr im Ungefähren, verliert er gar den Handlungsfaden. Hingegen im zweiten Teil versteht er es gut, die Gefühlswelt des Kindes und des heranwachsenden Paul zu schildern. Die inneren und äußeren Kämpfe, die Paul ausficht, als es um die Verhandlungen mit Rheinbraun geht, als er Fragen stellt, auf die er keine Antworten erhält. Im dritten Teil dann steigt die Spannung, verknüpft Andreas Wagner die fiktionale Geschichte mit den realen Ereignissen der letzten Jahre rund um den Hambacher Forst. Insbesondere wenn man wie ich in der Nähe der Rheinischen Tagebaue wohnt und diese Auseinandersetzungen aus der Nähe miterlebt hat, wird man an dieser Stelle des Romans natürlich noch mehr hineingezogen. Dabei fängt der Autor auch die Widersprüche in den Aktionen der (realen) Handelnden ein: „Sarah amüsierte es jedes Mal auf Neue, dass es möglich war, den Braunkohleriesen mit Kleinigkeiten wie brütenden Spechten oder schlafenden Bechsteinfledermäusen in die Schranken zu weisen, aber dass die gigantische globale Katastrophe des Klimawandels als Argument gegen weitere Rodungen nichts nutzte. Es war alles so absurd.“ (S. 248). Dem ist nichts hinzuzufügen.
Insgesamt ist dieser Roman durchaus lesenswert, trotz einiger Längen und sprachlicher Ungenauigkeiten. Man darf gespannt sein auf die weitere Entwicklung dieses Autors.
Andreas Wagner – Jahresringe
Droemer, August 2020
Gebundene Ausgabe, 255 Seiten, 20,00 €