Die ewig-gleiche Frage: möchte man den Augenblick des eigenen Todes vorher kennen? Darum geht es im Grunde in diesem tragischen Liebesroman der englischen Autorin, die damit ihr Debüt vorlegt. Was ihr durchaus gelungen ist, auch wenn mir der Roman manchmal doch ein wenig zu rührselig war.
Joel, von Beruf Tierarzt und Mitglied einer großen, ganz normalen Familie, hat Träume. In diesen Träumen sieht er Ereignisse voraus, Dinge, die Menschen, die ihm nahestehen, geschehen werden.
So weiß er im Voraus, dass sein Cousin von einem Hund angefallen werden wird, dass sein Patenkind bei einem Verkehrsunfall verletzt werden könnte und er weiß, wann seine Schwester ein Kind erwarten wird. Diese Träume machen ihn aber nicht glücklich, er leidet darunter, psychisch und physisch. Denn nicht immer kann er die Dinge, die er voraussieht, verhindern, vor allem nicht so, dass die Betroffenen davon nichts merken. Denn gesprochen hat er noch nie mit jemandem darüber.
Und er versucht, so wenig wie möglich zu schlafen, damit er nicht träumen muss. Darunter leidet seine Arbeit, so dass er aufhört, als Tierarzt zu arbeiten und von seinen Ersparnissen lebt. Jeder Beziehung geht er tunlichst aus dem Weg. Solange allerdings nur, bis er Callie begegnet und sich unsterblich in sie verliebt. Sie erwidert seine Gefühle und irgendwann hört er auf, sich dagegen zu wehren. Die Beiden werden ein Paar, Joel geht auch wieder mehr unter Menschen. Doch es kommt, was er befürchtet hat. Eines Nachts träumt er von Callie und ihrem Tod.
Holly Miller hat einen zu Herzen gehenden Roman geschrieben, sie findet die richtigen Worte und wunderschöne Bilder, um die Liebe zwischen diesen beiden jungen Menschen zu beschreiben. Joel und Callie sind sympathische Protagonisten, ebenso wie die Nebenfiguren, wie Joels Schwester oder Callies Arbeitskollegen. Besonders Joels Familiengeschichte ist berührend, er ahnte den Krebstod seiner eigenen Mutter voraus und hat es ihr nicht gesagt, was er sich noch viele Jahre später nicht verzeiht. Darum streitet er mit Callie darüber, denn er möchte sie über seinen Traum von ihr informieren, doch sie will nichts davon hören.
Die Kehrseite jedoch, die mich etwas störte, sind diese nahezu fehlerlosen Charaktere. Die Figuren sind nicht schattiert, nicht in Abstufungen mal mehr, mal weniger grau, sondern alle sind strahlend schön und gut. Die Handlung ist spannend und natürlich möchte die Leserin wissen, wie es ausgeht. Aber, wie bereits gesagt, ist alles etwas zu rührselig, zu kitschig, zu dramatisiert. Etwas mehr Bodenständigkeit, mehr Realität bei all der unrealistischen Ausgangsidee, hätte dem Roman nicht geschadet. So verwirrt es unter anderem, dass Joel Dinge, die er voraussieht, ändern kann. Denn dann geschehen sie nicht und man fragt sich, wieso er sie dann vorhersehen konnte. Dieses uralte Rätsel wird auch in diesem Roman nicht gelöst. Und schließlich ist das Ende unnötig in die Länge gezogen, noch ein Kapitel, noch ein Stückchen Handlung, die es nicht gebraucht hätte.
Ein rührender, mich nicht ganz so berührender Roman mit Schmöker-Potenzial, den man vielleicht nur in der richtigen Stimmung entsprechend genießen kann.
Holly Miller – Ein letzter erster Augenblick
aus dem Englischen von Astrid Finke
Blanvalet, Mai 2021
Klappenbroschur, 494 Seiten, 15,00 €