Wer den Film oder das Buch „Psycho“ liebt, sollte unbedingt dieses Buch von Liz Nugent lesen. Ein ganz anders gestrickter Plot, aber ebenso tief- wie abgründig, ebenso spannend wie unvorhersehbar. „Auf der Lauer liegen“ – ein nicht schlecht gewählter, aber in die Irre führender Titel – ist das Psychogramm einer soziopathischen Familie, deren Mitglieder so scharfsinnig skizziert, so kaltblütig seziert werden, dass manche Szene die Leserin in den Schlaf verfolgt.
Der Roman beginnt mit einem Mord. Andrew Fitzsimmons, ehrbarer Richter, tötet eine junge Frau. Sie hätte den brennendsten Wunsch seiner Frau Lydia erfüllen sollen, doch das ging schief. Daraufhin graben die Beiden in ihrem Vorgarten ein Grab und geben sich gegenseitig ein Alibi. Aber Andrew ist nicht so stabil wie seine Gattin, er zerbricht an der Tat, die er beging. Währenddessen schöpft ihr Sohn Lawrence Verdacht. Lawrence ist der Augapfel seiner Mutter, ihn behütet sie und will ihn am liebsten ganz für sich. Doch als er beginnt, sich für die Familie der Toten zu interessieren und mit ihr Kontakt aufnimmt, tritt er eine unaufhaltsame Lawine von Ereignissen los.
Liz Nugents Roman ist derart vielschichtig, dass man ihn gar nicht in wenigen Worten zusammenfassen kann. Erzählt wird die Handlung aus drei verschiedenen Perspektiven. Einmal verfolgen wir Lydias Sicht der Dinge, ihren Blick, der sich nahezu ausschließlich auf ihren Sohn richtet. Sie verlässt fast nie das Haus, hat keine Kontakte und möchte Lawrence stets bei und um sich haben. Eine weitere Erzählperspektive ist jene von Lawrence, der nach und nach die Wahrheit über die Tat seiner Eltern herausfindet und sein Handeln danach ausrichtet.
Und schließlich erfahren wir die Geschehnisse aus der Perspektive von Karen, der Schwester von Annie Doyle, dem Mordopfer. Wir verfolgen, wie deren Familie an dem Schicksalsschlag zerbricht, wie das Ereignis das ganze Leben der Eltern und der Schwester verändert. Und wir verfolgen, wie Karen und Lawrence sich kennenlernen.
All das ist so faszinierend geschrieben, mit derart subtiler, unterschwelliger Spannung, mit unglaublich fein herausgearbeiteten Charakteren, mit realistischen Dialogen und Aktionen, dabei gleichzeitig mit hauchfeinem, lakonisch-distanziertem Unterton. Als würde Liz Nugent diese Familie, diese Menschen – Täter wie Opfer – durch ein Brennglas beobachten, sezieren, analysieren, nur um dann die aus der Analyse zu ziehenden Schlussfolgerungen der Leserin zu überlassen.
Ein einzigartiger Psychokrimi, ein Thriller der Extraklasse.
Liz Nugent – Auf der Lauer liegen
aus dem Englischen von Kathrin Razum
Steidl Verlag, August 2022
Gebundene Ausgabe, 352 Seiten, 28,00 €