Wenn eine Mutter ihre drei Söhne gegeneinander aufstichelt, wenn eine Mutter einen dieser Söhne stets ablehnt, den anderen bevorzugt. Ist wieder einmal die Mutter an allem schuld? Das zu entscheiden, bleibt der Leserin dieses im doppelten Sinn grausamen Romans überlassen.
Allein schon der Aufbau ist grausam, denn die Spannung entsteht sofort, schon auf den ersten Seiten.
Dort nämlich wird eine Beerdigung geschildert, die Beerdigung eines Bruders aus der Familie Drumm. Nur, man erfährt erst wirklich ganz am Ende des Buches, welcher Bruder es ist, der dort zu Grabe getragen wird. Immer wieder gibt es kurze Szenen von der Beerdigungszeremonie, kommen Trauernde zu Wort, doch wer der Tote ist, bleibt bis zum Schluss offen. Grausam.
Nach dieser Eröffnungsszene beginnt William zu erzählen, der älteste der Brüder. In Ich-Form schildert er seine Sicht auf das Leben seiner Familie, in erratischer Abfolge in Rückblicken, nie chronologisch. Mal befinden wir uns im Jahr 1994, als Williams Tochter geboren wird, mal erfahren wir, wie es den Brüdern im Jahr 1981 erging. Dabei ist die Perspektive immer sehr subjektiv, immer lernen wir nur die Interpretation Williams, der eine Kariere als Filmemacher durchlebt. Wenn er davon berichtet, wie die Mutter, eine halbwegs erfolgreiche Schauspielerin und Sängerin, mit den Söhnen und dem aus Sicht der Söhne zu nachgiebigen Vater umgeht. Wenn er erzählt, welche sehr üblen Streiche er vor allem den jüngeren Brüdern spielt, immer sehen wir das Geschehen nur durch seine Augen.
Im Anschluss folgt der Teil, in welchem Luke, der jüngste Drumm-Bruder, seine Version darlegt, in gleicher Form wie zuvor William, d.h. ebenso unchronologisch. Luke wird ein berühmter Sänger, erst als Mitglied einer Band, später als Solist. Er rutscht immer wieder ab, wird eingewiesen in die Psychiatrie, muss seinen Bruder Brian als Quasi-Betreuer einstellen. Auch hier dreht sich alles um die Beziehung der Brüder zueinander und der Regie, die die Mutter in dem gesamten Spiel führt.
Als letzter in der Reihe lernen wir Brians Sicht der Dinge kennen. Er ist ein typisches Sandwich-Kind, immer nur so dabei, wenig auffällig. Er ist Lehrer geworden, muss aber seinen Beruf wegen Verleumdungen aufgeben und arbeitet dann für Luke, unter großzügiger Ausnutzung von dessen Finanzen.
Das Leben aller drei Brüder dreht sich auch um Williams Tochter Daisy, die eine nicht unwichtige Rolle einnimmt und viele Ereignisse lostritt. Durch die drei Erzählperspektiven gibt es auch etliche Wiederholungen in der Handlung, die dann doch die Geduld der Leserin strapazieren, auch wenn es natürlich interessant ist, wie unterschiedlich die drei Männer dasselbe Ereignis darstellen.
Insgesamt ist der Roman ein differenziertes, faszinierendes Psychogramm einer absolut dysfunktionalen Familie, einer Familie aus schrecklichen Menschen, die die Autorin mit einer Präzision beschreibt, dass man eine Gänsehaut bekommt. Diesen Menschen, so realistisch sie auch erscheinen, möchte man nicht im wirklichen Leben begegnen. Ein Beweis aber, dass auch ein Roman mit (fast) ausschließlich unsympathischen Figuren fesselnd und sehr gut sein kann.
Ein Buch, das nicht einfach zu lesen ist, aber ein nachhaltiges Leseerlebnis.
Liz Nugent – Kleine Grausamkeiten
aus dem Englischen von Kathrin Razum
Steidl, November 2021
Gebundene Ausgabe, 399 Seiten, 24,00 €
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