Eine ungewohnte Heldin in einem nicht ungewöhnlichen Krimi mit einem absolut außergewöhnlichen Ende.
Hulda Hermannsdóttir steht kurz vor ihrer Pensionierung bei der Kriminalpolizei Reykjavik. Sie hadert sehr damit, denn sie weiß mit sich außerhalb ihrer Arbeit wenig anzufangen. Andererseits fühlt sie sich unter ihren Kollegen auch nicht wirklich wohl, sie wird gemobbt, bei Beförderungen übergangen und die Lorbeeren ernten andere. Hulda ist verwitwet und lebt in einer Wohnung in der Stadt, obwohl sie die Natur liebt.
Sie hat gerade einen Fall von Fahrerflucht aufgeklärt, als ihr Vorgesetzter ihr mitteilt, dass sie früher als geplant in den Ruhestand gehen soll, ja , dass ihr Nachfolger bereits bestimmt ist und binnen einiger Tage ihren Schreibtisch übernehmen soll. Nach dem ersten Schock fordert Hulda, wenigstens noch einen alten, ungelösten Fall bearbeiten zu dürfen und bekommt dafür Zeit bewilligt.
Hulda wählt den Fall einer ermordeten russischen Asylbewerberin, den ein Kollege von ihr vor einem Jahr nur oberflächlich und wenig sorgfältig bearbeitet und als Selbstmord abgetan hatte. Sie beginnt ihre Nachforschungen, für die sie keinerlei Unterstützung von Kollegen oder ihrem Vorgesetzten bekommt, in der Asylbewerberunterkunft, in der Elena, die Tote, gewohnt hatte.
Parallel zur Krimihandlung wird in Rückblicken die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die ein uneheliches Kind zur Welt brachte und dieses während der ersten Lebensjahre in einem Heim unterbrachte, weil zu dieser Zeit eine unverheiratete Frau mit Kind in der Gesellschaft nicht akzeptiert wurde. In der Rückschau wird das Leben des Kindes geschildert und die schwierige Beziehung zu seiner Mutter. Der Leser begreift dabei nicht sofort, wo der Zusammenhang besteht, so dass diese Rückblicke am Anfang ein wenig stören, da sie aus dem Spannungsbogen der Krimihandlung herausreißen. Nach und nach wird dieser Teil des Romans dann aber immer interessanter.
Hulda will diesen einen Fall unbedingt noch lösen, auch weil sie sich nicht damit abfinden kann, dass sich schon nach einem Jahr kaum noch jemand an die Tote zu erinnern scheint. Sie will Elena vor dem Vergessen bewahren. Dabei kämpft Hulda gleichzeitig mit ihren eigenen seelischen Problemen, ihren Erinnerungen und ihrer Einsamkeit. Für mich war dieser Teil des Romans der interessantere, packendere. Der Kriminalfall gerät darüber ein wenig in den Hintergrund, was aber kein Manko ist. Der Fall selbst hatte für mich wenig Spannung, die Außeinandersetzung Huldas mit ihrem Vorgesetzten, ihre Zerrissenheit und ihr Kampf gegen das Älterwerden trieben den Roman weit mehr voran.
Dabei ist der Krimi gut geschrieben, es gibt keine Längen, keine Stellen, an denen die Handlung nicht vorankommt. Die Menschen, denen Hulda bei ihren Nachforschungen begegnet, sind interessante Charaktere, vielschichtig und abwechslungsreich. Nebenbei erzählt der Roman auch viel über Island, die raue Landschaft und das harte Klima.
Dennoch verwundert es etwas, dass die Times den Roman als einen der besten 100 Krimis seit 1945 auszeichnet, wie ein Sticker auf dem Buchcover behauptet. Fulminant und absolut verblüffend allerdings ist das Ende des Buchs, hier ist dem Autor wirklich etwas Ungewöhnliches gelungen.
Mir hat dieser Krimi – einen Thriller würde ich den Roman nicht nennen – gut gefallen, er macht neugierig auf die anderen Teile der Trilogie um Hulda Hermannsdóttir.
Ragnar Jónasson: Dunkel
btb, Mai 2020
Paperback, 378 Seiten, 15,00 €