Was für ein Titel! Ein Titel, der die ganze Wucht dieses Buches perfekt ausdrückt. Denn darum geht es im Roman von Annegret Held: um Armut.
Über den Zeitraum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzählt sie die Geschichte des Westerwälder Dorfs Scholmerbach und seiner Einwohner. Diese sind einfache Menschen, Bauern, Handwerker und fast alle bettelarm. Da gibt es nur einmal im Leben neue Schuhe, Kleider werden von einem Kind an das andere weitergegeben, bis sie so fadenscheinig sind, dass sie nur noch als Lumpen taugen. Da sind die Besuche des Krämers im Dorf sowas wie Feiertage, wo man all die Dinge, die man sich doch nie wird leisten können, bestaunen darf. Da sind die Frauen mit Anfang Vierzig ausgelaugt und viel zu früh gealtert von den unzähligen Geburten und all der vielen Arbeit mit der Kinderschar, die ernährt und versorgt werden will. Zehn oder fünfzehn Kinder in der Familie sind keine Seltenheit, dass davon aber nur ein kleiner Teil das Erwachsenenalter erreicht, ist eben auch keine Seltenheit.
Finchen ist eine Frau aus Scholmerbach, die mehr als andere auch mal über ihr Leben nachdenkt, die hin und wieder den Lauf der Dinge hinterfragt. Ob es wirklich sein muss, dass die Frauen stets und ständig schwanger werden, dass die Männer sich besaufen, dass es die Unterschiede zwischen reich und arm gibt. Doch auch sie kann an all dem nichts ändern, zieht ihre vierzehn Kinder auf, hat dazu noch ihre jüngeren Geschwister mit in ihren Haushalt aufgenommen und sogar noch Kinder anderer Frauen, die zu früh versterben. So macht man das im Dorf, man zankt sich oft, hilft sich aber auch, wenn Not ist. Und die Not ist groß, wenn die Kartoffeln auf dem Feld verfaulen, der Lehnherr den Zehnten einfordert, der Mann zu krank oder zu schwach zum arbeiten ist.
Wie Annegret Held das erzählt, ist an Authentizität fast nicht zu überbieten. Sie zeichnet ein derart plastisches Sittengemälde eines Dorfes tief im Westerwald, dass die Leserin meint, den Gestank, den Schmutz, das Elend mitzuerleben. Viel trägt dazu die Sprache bei, sowohl im erzählenden Teil mit den gewaltigen Bildern, die Annegret Held mit ihren Worten erschafft, wie vor allem in den Dialogen, verwendet die Autorin dafür doch durchgängig den Westerwälder Dialekt. Schwer ist es, sich darin einzulesen, anstrengend ist die Lektüre, auch durch diese Schreibweise. Aber Durchhalten lohnt sich, erfährt man doch nicht nur vieles über das „brennend Hemd“ der Armut. Der Autorin gelingt auch die historische Einordnung zwischen der Napoleonischen Zeit und der Revolution von 1848.
Der vorliegende Roman reiht sich ein zwischen die anderen Bücher von Annegret Held über die Westerwälder. Ein nachhallendes, schwergewichtiges Buch, das man gelesen haben sollte.
Annegret Held – Armut ist ein brennend Hemd
Eichborn, September 2020
Taschenbuch, 367 Seiten, 12,00 €