Es sind tatsächlich kleine, anfangs winzige Fluchten, die sich die Protagonistin des kurzen Romans der französischen Autorin gönnt. Diese junge Frau ist eine alleinerziehende Mutter, ihr Sohn ist gerade einmal zwei Jahre alt. Noch hat sie keinen Krippenplatz für ihn gefunden, sie muss von zu Hause arbeiten, sie ist Graphikerin. Immer wieder verliert sie Aufträge, weil sie des Kindes wegen Termine nicht einhalten kann. Der Kleine ist anstrengend, er verlangt Aufmerksamkeit, Zuwendung. Ständig ruft er nach der Mutter, ruft „Zu mir, zu mir.“
Die Mutter hat keine anderen Bezugspersonen, ist in die kleine Wohnung wie eingesperrt, dazu kommen Geldsorgen, Zukunftsängste. So erlaubt sie sich kleine Fluchten, verlässt abends, sobald das Kind schläft, die Wohnung. Sie streift durch die Straßen, schaut in Fenster, beobachtet Menschen. Erst kurz, nur wenige Minuten, doch nach und nach werden diese Ausflüge, die nächtlichen Fluchten länger.
Neben den wenigen Kontakten, die sie hat, sucht sie Anschluss in Internetforen, sucht Mütter in der gleichen Situation, mit denselben Problemen. Doch wenn sie, unter einem Nickname, ehrlich von ihren Gefühlen erzählt, ergießt sich schnell ein Shitstorm über sie. Die anderen Mütter, obwohl selbst ähnlich gestresst, wollen gleichzeitig perfekt erscheinen, lassen Versagen nicht gelten. Immer wieder versucht die Protagonistin, über diese Plattformen Bestätigung, Hilfe zu erhalten, doch vergebens.
Schließlich dehnt sie ihre Flucht über eine ganze Nacht aus.
Als Leserin fällt man ja gerne mal ein Urteil über die, immerhin fiktiven, Hauptfiguren eines Romans. Man maßt sich an, beurteilen und bewerten zu können, wie die Protagonisten handeln. Ist es gut, ist es böse? Aber genau das fällt hier schwer. Die Handlungen der jungen Mutter mögen hart, gefährlich, vielleicht egoistisch sein. Aber sind sie deswegen weniger verständlich?
Der Autorin gelingt es, diese Ausweglosigkeit, die Einsamkeit und das Gefangensein einer alleinerziehenden Mutter prägnant zu beschreiben. Die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Krippenplatz, die Probleme für Beruf und Karriere, die mit der Mutterschaft unweigerlich entstehen, das ist so hart und deutlich erzählt, wie es auch in der Realität ist. Gerade Leserinnen, die diese Situation am eigenen Leib erfahren haben, können das Verhalten, können die Fluchten der Protagonistin dieses Romans zumindest nachvollziehen. Beängstigend und erschütternd bleibt es dennoch.
Carole Fives – Kleine Fluchten
aus dem Französischen von Anne Braun
Zsolnay, März 2021
Gebundene Ausgabe, 140 Seiten, 19,00 €