Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Katastrophen oder Gräueltaten großen Ausmaßes für diejenigen, die davon nicht betroffen sind, nur sehr abstrakt bleiben, wenn man die schieren Opferzahlen nennt. Sobald jedoch Einzelschicksale herausgegriffen, individuelle Geschichten erzählt werden, dann sind die Zuhörer, die Leser entsetzt, schockiert, geraten in Wut oder trauern.
Diese Vorgehensweise, den wohlbehüteten Europäern die menschenverachtenden Vorgänge im Zusammenhang mit der Flucht über das Mittelmeer nach Europa vor Augen zu führen, funktioniert auch in diesem Roman.
Der Autor Louis-Philippe Dalembert wurde in Haiti geboren, er lebt heute in Paris und Port-au-Prince. Seine Geschichten und Romane wurden mit Preisen ausgezeichnet, auch „Die blaue Mauer“ war für den Prix Goncourt 2019 nominiert.
„Die blaue Mauer“ – Zu Beginn habe ich mich nach dem Sinn des Titels gefragt. Doch der erschließt sich sehr schnell und hätte prägnanter kaum gewählt werden können. Diese blaue Mauer, das ist nichts anderes als das Mittelmeer, das ist die Mauer zwischen der EU und den Flüchtenden, die aus Afrika kommen, weil alles besser ist als das Leben, das sie zurücklassen. Und die EU, so will es immer wieder scheinen, ist froh um diese Mauer.
Dalembert greift drei Schicksale heraus aus den Tausenden, die jedes Jahr unter Gefahr für Leib und Leben, gegen Zahlung hoher Summen und trotz der unmenschlichen Grausamkeiten der Schlepper diese Fluchtroute wählen. Chochana ist eine junge Frau aus Nigeria, die vor Hunger und Armut flieht und zusammen mit ihrem jüngeren Bruder und einer Freundin diese Reise ins Ungewisse antritt. Semhar, eine Ex-Soldatin aus Eritrea, flieht aus ihrer Heimat, weil sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen möchte und sich nicht ein Leben lang in den Militärdienst zwingen lassen will. Und schließlich Dima, die vor dem Krieg und seinen Gefahren aus Syrien flieht, zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Töchtern.
In getrennten Kapiteln schildert Dalembert die Erlebnisse der drei Frauen auf ihrer Flucht, beschönigt nichts, zeigt die Grausamkeiten, die vor allem Frauen erleiden, die sich in die Hände skrupelloser Schlepper begeben. Es sind unvorstellbare, barbarische Vorgänge, denen sie ausgesetzt sind. Und dennoch bewahren sie sich ihre Menschlichkeit. Chochana und Semhar begegnen sich in einer Halle, in der die Flüchtenden wie Sklaven gehalten werden, zum Arbeiten vermietet werden oder den Männern zur Verfügung stehen müssen. Sie klammern sich aneinander und gemeinsam gelangen sie schließlich auf das Boot, dass sie nach Europa bringen soll.
Hier begegnen sie Dima, die als Araberin heftige Vorurteile gegenüber den Schwarzafrikanern hat und diese auch nicht vor ihnen verbirgt. Doch trotz allem werden die drei Frauen sich gegenseitig helfen und gemeinsam ans Ziel kommen.
Zwischen die Kapitel über die drei Frauen sind die Ereignisse auf dem Schiff eingeschoben, die entsetzlichen Zustände, die gefährliche Überfahrt und schließlich die Rettung. Louis-Philippe Dalembert basiert seinen Roman auf den tatsächlichen Ereignissen um ein im Jahr 2014 havariertes Boot mit Flüchtlingen, die von einem dänischen Tanker gerettet wurden.
Die Lektüre dieses Romans macht wütend, wütend auf diejenigen Politiker, die diesen Flüchtenden die Hilfe verweigern, diejenigen Entscheider, die diese „blaue Mauer“ gerne unüberwindbar machen würden.
Deswegen ist es wichtig, dieses Buch zu lesen. Stilistisch lässt es zwar etwas zu wünschen übrig, die Perspektivwechsel gelingen nicht immer und die Übersetzung erscheint mir recht holprig, dazu kommen einige Druckfehler. Dennoch muss man diesen Roman unbedingt empfehlen.
Louis-Philippe Dalembert – Die blaue Mauer
aus dem Französischen von Christine Ammann
Nagel & Kimche, März 2021
Gebundene Ausgabe, 319 Seiten, 24,00 €