Ob Julia Cameron tatsächlich die Erfinderin der Morgenseiten ist, weiß ich nicht. In jedem Fall ist ihr Name für mich stets mit dieser Methode verbunden. Morgenseiten schreiben ist in den Augen der Autorin von Romanen und Drehbüchern ein erster großer Schritt hin zum kreativen Schreiben.
In ihrem 1998 in den USA erschienenen Buch hilft Julia Cameron all denen, die dies wollen, schreibend die Welt zu erobern (so auch der Titel des ersten Kapitels). In ihren Augen geht es nur darum, zu verstehen, was Schreiben wirklich ist. Wer dies erkennt und diese Erkenntnis umzusetzen lernt, demjenigen wird die Inspiration widerfahren. So in etwa könnte man die Anschauung dieser Autorin zusammenfassen, jedenfalls habe ich sie für mich so verstanden.
Julia Cameron glaubt daran, dass jeder und jede schreiben kann. Und dass man das eigene Leben schreibend verstehen und aushalten kann. Und sie glaubt daran, dass Inspiration aus allem kommt, dem man begegnet, das man erlebt, das man liest, sieht, fühlt.
Viele Sätze in ihrem Buch sollte man sich merken. Wie diese hier: „Lassen wir uns selbst außen vor und hören wir auf, gut sein zu wollen, dann erfahren wir, wie es ist, wenn das Schreiben fließt.“ (S. 25) oder „Schreiben ist beobachten und aufzeichnen, nicht ausdenken.“ (S. 47) oder „Ich gebe mir Mühe, meinen inneren Schriftsteller nicht zu drangsalieren oder anzugreifen. Ich zwinge ihn nicht, ständig das zu schreiben, was er schreiben ‚sollte‘, sondern lasse ihm genug Raum, um das zu Papier zu bringen, was er ‚möchte‘. (S. 58).
Genau das ist es meines Erachtens, was sie in ihrem Buch zum Ausdruck bringen möchte: hören wir auf unseren inneren Schriftsteller, schreiben wir intuitiv, aus unserem Inneren heraus, dann kommt die Inspiration von allein. Auch wenn mir manches, das Julia Cameron darlegt, etwas zu esoterisch, etwas zu übersinnlich ist, so hat mich ihr Grundgedanke schon erreicht. Im Grunde findet sie nur andere Worte, um das auszudrücken, was wir Autoren uns alle immer merken sollten: schreiben, schreiben, schreiben.
So sind auch die von ihr propagierten Morgenseiten – morgens direkt nach dem Erwachen unmittelbar drei bis fünf DInA4 Seiten schreiben, dabei den Text ohne Nachdenken und ohne Absetzen aus sich herausfließen lassen – nur ein weiterer Baustein, dazu dienend, die Schreibroutine zu entwickeln, die einen Schriftsteller ausmacht. Diese Routine ist es am Ende auch, die am ehesten den schlimmsten Kritiker zum Schweigen bringt, den inneren nämlich. „Sie, der Schriftsteller, sind ein spirituelles Instrument. Wenn Sie mit Stetigkeit schreiben, dann bewirken Sie damit die Feinstimmung Ihres Instruments. Ihr Schreiben wird immer flüssiger und ausdrucksvoller. Beides zieht automatisch größere Lebendigkeit nach sich. (S. 244).
Neben den erwähnten, mir etwas zu abgehobenen, Ansichten gibt die Autorin auch durchaus handfeste Ratschläge. Es macht nämlich durchaus Sinn, dass ein Schriftsteller nicht im Elfenbeinturm sitzen sollte. Nur wer hinausgeht, etwas wahrnimmt, beobachtet, lernt, spürt, kann daraus auch lebendige, lebensnahe und authentische Texte verfassen. Anders ausgedrückt: ohne Input kein Output. Daher lautet einer ihrer spannendsten Tipps: gehe hinaus und zwar allein. Besuche ein Museum, setze dich in ein Café, wandere durch ein Tal oder besteige einen Berg. Hauptsache, du sammelst Eindrücke. Insbesondere betont sie das dabei Alleinsein. Denn nur wer mit sich allein ist, kann sich auf diese von außen kommenden Inspirationen konzentrieren, kann sie vollends auf sich wirken lassen, ohne abgelenkt zu sein, ohne beeinflusst zu werden. Dabei ist nicht nur das tatsächliche Hinausgehen von Belang, auch das einfache Lesen von Nachrichten in Zeitungen oder das Belauschen von Gesprächen kann zu wunderbaren Inspirationen führen und zu inspirierten Geschichten.
In den vielen Kapiteln ihres Buches erläutert Julia Cameron auf vielfältige Weise, wie man den Weg zum inspirierten Schriftsteller findet und wie man ihn geht. Am Ende eines jeden Kapitels bietet sie jeweils eine Übung an, die einfach umzusetzen, aber sehr probat ist. Manchmal sind es Listen, die sie anregt, Listen von Dingen, bei denen man erfolgreich war, von Plänen, die man hat, Zielen, die man erreichen möchte. Ein anderes Mal regt sie dazu an, abends mit ein paar Sätzen den vergangenen Tag Revue passieren zu lassen. Immer wieder auch rät sie dazu, zum Schreiben aus dem Haus zu gehen, man also nicht nur die Inspiration draußen suchen soll, sondern auch das In-Worte-Fassen außerhalb der eigenen, allzu bekannten vier Wände stattfinden soll.
Das Buch von Julia Cameron ist anders als andere Bücher über das kreative Schreiben. Es ist kein Ratgeber, der anleitet, wie man gute Dialoge schreibt oder erklärt, warum man mit Adjektiven sparsam umgehen sollte. Es ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt, zum Nachdenken über die eigenen Befindlichkeiten, die eigenen Wünsche und Ziele. Und darüber, wie man sie erreichen kann, wie man ein inspirierter Schriftsteller wird.
Julia Cameron – Von der Kunst des kreativen Schreibens: Der Weg zum inspirierten Schriftsteller
Deutsch von Diane von Weltzien
Autorenhausverlag, 2018
Gebundene Ausgabe, 328 Seiten, 19,99 €