Was für eine abgedrehte Story! Was für ein wahnsinnig spannender Roman! Da fliegt ein Flugzeug im März von Paris nach New York und gerät in heftigste Turbulenzen. Doch alle kommen heil und gesund an und führen ihr Leben weiter. Alle, das sind unter anderem ein Architekt und seine Geliebte, die alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen. Das ist ein Auftragskiller, das ist ein Autor und Übersetzer. Weitere Passagiere sind ein nigerianischer Rapper, eine Schauspielerin und dann ist da noch der Flugkapitän.
Und dann fliegt dasselbe Flugzeug – und hier meine ich tatsächlich dasselbe und nicht das gleiche – im Juni wieder diese Route von Paris nach New York und gerät wieder, am selben Ort, in heftige Turbulenzen. An Bord diesmal: wieder exakt dieselben Personen wie auf dem Flug im März.
Das ist der Ausgangspunkt diese unglaublich faszinierenden Plots, den der französische Autor hier in den Roman fasst, für den er im vergangenen Jahr völlig zu Recht den Prix Goncourt erhalten hat.
Wie er diese Handlung dann weiterentwickelt, wie er die Personen mit einer Vergangenheit versieht, die deren Reaktionen und Handeln in dieser absurden Situation dann perfekt herleitet und begründet, wie er die wissenschaftliche, die religiöse und die ethische Seite dieses Vorfalls und insbesondere des Umgang der Regierungen damit, wie er all das in dem Roman darstellt, das ist so fesselnd, so spannend und abgedreht, dass man beim Lesen ständig mit dem Kopf schüttelt, die Schultern zuckt oder laut lacht.
Denn tatsächlich stehen schließlich alle Passagiere sich selbst gegenüber. Zu welchen kuriosen, peinlichen und auch unendlich traurigen Situationen das führen kann, darauf muss man erstmal kommen. Wenn ein Kind plötzlich zweimal dieselbe Mutter hat, wenn ein Mann auf einmal seine Ehefrau doppelt sieht, wenn ein Toter wieder aufersteht, da fragt man sich als Leserin automatisch: wie würde ich hier reagieren.
Hervé Le Tellier lässt zusätzlich auch die Regierenden der Welt in seinem Roman auftreten, den amerikanischen Präsidenten, der mit den europäischen Regierungschefs ebenso verhandeln muss wie mit dem chinesischen. Militär, Geheimdienst, hochrangige Wissenschaftler und Forscher, alle versuchen, Ursache und Lösung des Problems zu finden.
Nicht alle Passagiere sind sympathisch, aber alle sind tiefgründige, schlüssige Charaktere, die schließlich jede und jeder für sich einen Ausweg finden, nicht immer glücklich werden damit. Auch diese Dilemmata, die teils herzzerreißenden Szenen, schildert der Autor mit den passenden Worten und Bildern. Manchmal brutal, manchmal berührend, oft sehr humorvoll, wenn nicht gar zynisch. Gerade dieser intelligente Mischung aus Empathie und Ironie, aus Leid und Witz machen diesen Roman zu etwas besonderem.
Auch wenn ich nicht all die wissenschaftlichen Diskussionen, die teils recht ausführlich beschrieben sind, verstand, die Spannung bleibt über den gesamten Roman auf sehr hohem Niveau. Stets fragt man sich, wie löst der Autor diese Zwangslage auf, wie klärt sich diese Situation. Und das Ende schließlich lässt einen mit offenem Mund und atemlos zurück.
Eine unbedingte, uneingeschränkte Leseempfehlung!
Hervé le Tellier – Die Anomalie
aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte
Rowohlt Hundert Augen, August 2021
Gebundene Ausgabe, 345 Seiten, 22,00 €