Frage: Wie spannend kann eine Geschichte sein, wenn man das Schicksal der Hauptfigur von Anfang an kennt? Antwort: Hochspannend.
Die Autorin, von der ich gerne mehr lesen möchte, basiert ihren Roman auf einem wahren Ereignis: Im November 1970 wird in einem abgelegenen, einsamen Tal in Norwegen eine unbekannte Frauenleiche gefunden, verbrannt, unkenntlich. Niemand scheint sie zu vermissen, niemand erkennt sie. Auf diesem Geschehen baut Anja Jonuleit ihre faszinierende und ungemein fesselnde Handlung auf.
50 Jahre später entdeckt Schriftstellerin Eva in einer Zeitung ein Phantombild dieser Frau, die immer noch nicht identifiziert ist, die aber nach neuen Erkenntnissen Beziehungen zu Deutschland hatte. Und das Unfassbare: diese Frau sieht aus wie sie selbst. Und wie ihre Mutter. Auch wenn sie sich dagegen wehrt, der Fall lässt Eva nicht mehr los und sie beginnt nachzufragen, konfrontierte ihre Mutter mit dem Bild. Diese reagiert abwehrend, entsetzt, doch Eva lässt nicht locker und findet relativ schnell heraus, dass die Tote ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter ist.
Nun folgen wir Evas weiteren Recherchen, sie reist nach Norwegen, bekommt von der Polizei alle Akten zu den in den ganzen Jahren geführten Ermittlungen. Dabei entdeckt sie Abgründe in ihrer Familiengeschichte.
Parallel folgen wir dem Lebensweg der Frau, die später als Tote aufgefunden wird. Margarete, oder Marguerite, wie sie heißt, hat kein fröhliches, leichtes Leben. Ihre Geschichte ist so ganz anders als die von Ingrid, Evas Mutter. Vor allem eins treibt Margarete ihr ganzes, kurzes Leben hindurch: sie will ihre Familie wiederfinden, die sie in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verlor.
Besonders diese Abschnitte des Romans, in dem wir Marguerite begleiten, erfahren, wie sie sich durchs Leben schlagen muss, welche Dinge ihr widerfahren, sind unglaublich spannend. Stets wünscht die Leserin ihr Glück, wünscht, dass sie irgendwie doch noch dem Tod von der Schippe springen könnte. Wünscht ihr, dass nicht alle Männer, denen sie begegnet, sie nur ausnutzen, sondern das da mal einer wäre, der ihr Wohl im Auge hätte.
Dagegen sind die aus Sicht von Eva erzählten Teile des Buchs weniger aufregend, beschäftigen sie sich doch auch viel mit ihren Gefühlen, die mir nicht immer schlüssig vorkamen. Doch das, was sie auf ihrer Suche herausfindet, über ihre Großmutter, über deren Tätigkeit als Ärztin während der Zeit der Nationalsozialisten, das ist erschütternd und hier kann man dann doch das Entsetzen, das Grauen und die Scham, die Eva empfindet, nachfühlen.
Doch auch die Nebenfiguren in Margaretes Erzählabschnitten sind lebendiger als die in Evas Part. Letztere wirken manchmal etwas hölzern, während beispielsweise Damiano, der wichtigste Mann in Margaretes Leben, facettenreich ist, tiefgründig, schwer zu durchschauen und darum ein sehr spannender Charakter.
Und dann gibt es noch einen dritten Erzählstrang, in dem wir die Geschichte von Laurin Abrahamsen, Professor in Oslo, erleben, dessen Verbindung zu Marguerite und Eva sich erst nach und nach erschließt, was wiederum eine unglaublich spannende Facette des Romans ist. Immer wieder gerät man auf falsche Fährten, gehen die Vermutungen der Leserin in die falsche Richtung. Und immer wieder kann man nicht schnell genug umblättern.
Bei all dem ist es angenehm, dass in diesem Roman die Handlung absolut im Vordergrund steht. Der Stil von Anja Jonuleit ist wunderbar unaufdringlich, nimmt sich zurück, lenkt nicht ab von den Geschehnissen „auf der Bühne“, denen man atemlos folgt. Ich habe den Roman binnen weniger Stunden verschlungen und auch danach hat mich die Geschichte um Margarete und ihr Schicksal noch einige Zeit verfolgt.
Besonders interessant waren schließlich die zahlreichen letzten Seiten des Buchs, in denen die Autorin die tatsächlichen, wahren Ereignisse ihrem Roman gegenüberstellt, die damaligen und die neuesten Ermittlungsergebnisse schildert. Und so erschütterndes wie eine Liste der Dinge, die die Tote bei sich hatte. Diese Informationen waren ebenso spannend wie die fiktive Geschichte, die sie uns erzählt hat.
Anja Jonuleit – Das letzte Bild
dtv, August 2021
Gebundene Ausgabe, 471 Seiten, 22,00 €