Ganz im Gegensatz zum Titel ist es eine große Freude, dieses Buch zu lesen. Behutsam, mit viel Verständnis und ebenso viel Einfühlungsvermögen erzählt die englische Autorin von einer einsamen, pflichtbewussten, in den Moralvorstellungen der Zeit verfangenen Frau im London der 50er Jahre.
Jean Swinney, Ende Dreißig und als Lokalreporterin tätig, lebt zusammen mit ihrer Mutter in einem kleinen, etwas heruntergekommenen Haus in London. Ihre Mutter ist gesundheitlich angeschlagen und ein schwieriger Charakter. Daher genießt Jean die Stunden, die sie in der Redaktion oder mit Recherchen fern von zu Hause verbringen kann, ist sie doch in ihrer Freizeit stets ans Haus und an ihre Mutter gebunden.
Aufgrund eines wissenschaftlichen Artikels über Parthenogenese meldet sich bei Jeans Zeitung eine Frau, die behauptet, ihre Tochter sei die Frucht einer jungfräulichen Empfängnis. Das ist der Auftakt zu Ereignissen, die Jeans Leben komplett verändern werden.
Jean bekommt den Auftrag, für einen großen Artikel diese Frau zu treffen und herauszufinden, wieviel Wahrheitsgehalt in der Geschichte steckt. Mithilfe von wissenschaftlichen Untersuchungen soll geprüft werden, ob die Tochter von Gretchen Tilbury wirklich durch „unbefleckte“ Empfängnis entstand. Jean, aufgrund einer spontan aufkeimenden Sympathie für Gretchen und besonders für die 10-jährige Margaret geneigt, ihr zu glauben, gerät in Konflikt mit ihren Ermittlungen, die sie doch eigentlich unvoreingenommen durchführen soll. Denn nicht nur für Gretchen und Margret entwickelt sie mehr als herzliche Gefühle, sondern auch für Gretchens Ehemann Howard.
So gibt es im Grunde zwei Handlungsstränge in diesem Roman, der in einer zu Zeit und Plot perfekt passenden Sprache geschrieben ist. Einmal die spannende Geschichte um die Frage der Entstehung des Kindes, geschehen offensichtlich während eines Klinikaufenthaltes von Gretchen vor 10 Jahren. Immer tiefer dringt Jean in die Hintergründe ein, immer mehr Zeugen befragt sie und immer verwirrendere Erkenntnisse sammelt sie.
Parallel erleben wir die vorsichtig sich entwickelnden Gefühle Jeans für Howard, die heftig mit ihren Moralvorstellungen, mit ihrer Freundschaft zu Gretchen und ihren Pflichten ihrer Mutter gegenüber kollidieren. Beeindruckend, wie Clare Chambers die inneren – und äußeren – Kämpfe ihrer Protagonistin schildert, ohne zu dramatisieren, ohne sie als Opfer darzustellen. Jean ist eine durchaus selbstbewusste Frau, die ihren Tag und ihr Tagwerk am liebsten gut strukturiert, die sich auch über ihre Mängel und Schwächen im Klaren ist. Eine Frau, die nicht lamentiert, sondern handelt, die sich auch ihre Freiräume zu schaffen weiß, nicht immer zum Vergnügen ihrer Mutter.
Hier wird nichts verkitscht, überdramatisiert oder rührselig. Genau das ist, was mir an diesem Roman so gut gefallen hat: er bleibt realistisch, sowohl Jeans Gefühle wie auch ihre Reaktionen darauf und ihr Umgang damit sind nachvollziehbar, wirken authentisch, schlüssig aus ihrer Geschichte und ihrem Leben. Die Sprache ist hervorragend auf diese Figur abgestimmt, prosaisch, leicht unterkühlt, immer mit einem ganz leisen Humor, und doch voller Gefühl.
Ein ruhiger, aber spannender Roman um eine interessante Frauenfigur.
Clare Chambers – Kleine Freuden
aus dem Englischen von Karen Gerwig
Eisele, August 2021
Gebundene Ausgabe, 427 Seiten, 24,00 €