Ganz entgegen meiner üblichen Art habe ich dieses Buch sehr langsam gelesen, über mehrere Tage und habe dabei jeden einzelnen Satz inhaliert. Der Roman, das Debüt der für ihre Kurzgeschichten mehrfach ausgezeichneten Autorin, ist etwas ganz besonderes. So sehr, dass er mich bis in den Schlaf verfolgte mit seiner minutiös aufgebauten Spannung und mich die Figuren durch den Tag begleiteten, als wären sie leibhaftig.
Erzählt werden die Geschehnisse eines heißen Sommers im Jahr 1981 in Pennsylvania. Erzählt wird die Geschichte in Ich-Form von der 15-jährigen Libby, mittleres von fünf Kindern der Familie Gallagher. Die Familie lebt „am Berg“ und damit bei den sozial Schwachen, den Außenseitern. Libbys Vater ist gestorben, vor fast einem Jahr, lebte aber schon länger nicht mehr in der Familie, da die Eltern geschieden waren. Die Mutter Faye ist wie ein Schatten, der von den Kindern weitestgehend von allem ausgeschlossen wird.
Nur ganz am Anfang des Romans tritt die Mutter in Aktion. Auf der Rückfahrt von der Schule – es ist der letzte Schultag vor den Ferien – eskaliert ein Streit unter den Kindern und die Mutter wirft die 12-jährige Ellen aus dem Auto. An einer einsamen Straße, kurz vor dem Hereinbrechen der Abenddämmerung und wohl wissend, dass das Kind für den Nachhauseweg Stunden brauchen wird und durch den dunklen Wald gehen muss. Mit dieser Aktion wird eine Lawine von Ereignissen losgetreten, die Libby so gerne und so verzweifelt aufhalten möchte.
Doch all ihre Versuche gehen schief, machen die Dinge schlimmer und reißen Libby in immer größere Schwierigkeiten. Dabei will sie unbedingt alle Erwachsenen aus den Problemen heraushalten, lässt ihre älteren Geschwister und ihre beste Freundin Sage schwören, nichts zu verraten. Sage, die ihr stets hilft, immer zu ihr hält, ihr aber auch den nicht immer willkommenen Spiegel vorhält.
„Sage und ihre Ehrlichkeit. Ich wusste, dass mich auch das schon gegen sie aufgebracht hatte, dass ich ihr übelnahm, wie nah sie an uns dran war, so nah, dass sie Dinge sah, die ich nicht sehen konnte oder nicht sehen wollte. Ich hasste mich selbst dafür, ihr überhaupt etwas erzählt zu haben, und sie dafür, dass sie zuhörte, dass sie bezeugte, was geschah, und es mir dann manchmal später wieder servierte.“ (S. 206)
Dadurch gewinnt die Lawine immer mehr an Tempo und das Unheil, das sich ankündigt, wird größer. Aus dem Wissen, dass all das nicht gut ausgehen kann, gewinnt der Roman eine derart hohe, subtile Spannung, dass es Herzklopfen erzeugt, dass man Libby immer wieder zurufen möchte, innezuhalten. Das Buch ist kein Thriller, kein oberflächlicher Spannungsroman, sondern ein tiefgreifendes, atmosphärisch hochverdichtetes Psychogramm eines pubertierenden Teenagers, der ins Verhängnis steuert aufgrund seiner fehlerhaften Sicht auf die Erwachsenenwelt.
Una Mannion erzählt ihre Geschichte dabei nicht wirklich aufgeregt, obgleich sie aufregend ist. Vieles wird in langen, ruhigen Szenen beschrieben, vor allem immer dann, wenn sich Libby an ihren geliebten Vater erinnert, an das, was er sie gelehrt hat, wie die Liebe zu den Bäumen. Hier zeigt sich die Kraft der Worte, wenn die Autorin die Natur, die Landschaft beschreibt, seien es die Wälder, in denen sich Libby am wohlsten fühlt, oder die Zerstörung durch großflächigen Kohleabbau.
Besonders berührend sind auch die Szenen zwischen den fünf Geschwistern, von der 7-jährigen Beatrice bis zur gerade volljährig gewordenen Ältesten Marie, an die sich die anderen bei Kummer und Sorgen wenden, statt die Mutter anzusprechen.
Erwähnenswert ist auch noch das, wie ich finde, ungemein gelungene Cover des Buchs.
Für mich ist dieses Buch eines meiner Jahreshighlights, wenn nicht eines der letzten Jahre. Ich hoffe sehr, noch viele Roman von Una Mannion lesen zu dürfen.
Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen
aus dem Englischen von Tanja Handels
Steidl Verlag, August 2021
Gebundene Ausgabe, 343 Seiten, 24,00 €