Außergewöhnlich berührender Roman um zwei Geschwister, sehr empfehlenswert
„Haben Mom und Darren uns mehr durch das, was sie getan haben, verletzt, fragte ich mich, oder durch das, was sie nicht getan haben? Was hinterlässt schlimmere Wunden – der spürbare Hass oder die fehlende Liebe?“ (S. 205)
Diese Sätze machen wirklich nachdenklich. Die Antwort auf diese Frage gibt das Buch am Ende auch nicht. Aber es endet versöhnlich, soviel sei verraten.
Dieses Buch, welches ich nicht mehr aus der Hand legen konnte, nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte. Ein Jugendroman, der erschüttert, der berührt und der so wunderbar geschrieben ist wie alle Bücher von David Levithan und Jennifer Niven. Sein „Will und Will“, welchen er zusammen mit John Green verfasst hat oder ihr Roman „All die verdammt perfekten Tage“ sind ebenso ergreifende wie mutmachende Geschichten um das Erwachsenwerden.
So auch der vorliegende Roman, geschrieben in Form von Mails. Die gehen hin und her zwischen der gerade volljährigen Bee und ihrem jüngeren Bruder Ezra. Bee ist verschwunden, fortgelaufen von dem Zuhause, das diesen Namen nicht verdient. Denn die Mutter tritt nicht ein für ihre Kinder, die immer wieder von ihrem neuen Mann Darren drangsaliert werden. Sei es, dass er ihre Weihnachtsgeschenke auf die Straße wirft und mit dem Auto darüberfährt oder dass er dafür sorgt, dass die Kinder ohne Essen bleiben.
Davor also ist Bee fortgelaufen. Initialzündung war aber eine mysteriöse Nachricht, die sie erhalten hatte. Um den Verfasser dieser Nachricht zu treffen, verlässt sie ihren Bruder. Ezra, knapp fünfzehn, verkraftet es kaum, dass Bee ihn allein zurücklässt, nimmt es ihr übel. Und verzeiht ihr erst, als sie wieder Kontakt zu ihm aufnimmt über die genannten Mails, in denen sich die beiden nun Tag für Tag ihre Erlebnisse und vor allem ihre Gefühle schildern. Bee trifft neue Menschen, macht neue Erkenntnisse und Ezra lernt, wem er vertrauen kann und wem nicht.
Es ist faszinierend, wie gut sich Levithan und Niven in die Jugendlichen hineinversetzen können. Sprachlich passt es zwar meines Erachtens nicht immer, insbesondere Ezras Ton in den Mails wirkt manchmal zu erwachsen, was aber auch an der Übersetzung liegen könnte. Aber die Gefühle, die starken Emotionen, die Verzweiflung, die Einsamkeit und Verlorenheit, weil sie niemandem von den Zuständen in ihrer Familie erzählen können, die schildern die beiden Autor:innen unglaublich empathisch, authentisch, so dass man sich als Leserin fast zu sehr in die beiden Hauptfiguren hineinfühlen kann. Dazu entwickelt der Roman eine unglaubliche Spannung.
Eine unumwundene Empfehlung für diesen ganz außergewöhnlichen Roman.
David Levithan & Jennifer Niven – Nimm mich mit dir, wenn du gehst
aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott
cbj, April 2023
Gebundene Ausgabe, 352 Seiten, 18,00 €