Uwe Wittstock – Marseille 1940

⭐⭐⭐⭐⭐

Ein Thriller könnte nicht spannender sein

Diese Geschichte stiller Helden, mutiger Frauen, kluger Männer und eines grausamen Krieges ist so fesselnd, so spannend und gleichzeitig so berührend, dass man sie geradezu verschlingt.

Der Autor Uwe Wittstock, dessen Buch „Februar 1933“ ich bisher noch nicht kenne (was ich aber unbedingt nachholen muss), erzählt hier von den vor dem Naziregime geflüchteten Literaten, Künstlern, Philosophen und ihrer Hoffnung auf Rettung. Ihrer Hoffnung auf Aufnahme in einem anderen Land, einen Land, dass sie nicht, wie das „freie“ Frankreich, an die Deutschen ausliefern würde.

Fliehend vor der näher rückenden deutschen Armee, die 1940 in einem beispiellosen Durchmarsch Paris und den größten Teil Frankreich erobert, stranden so berühmte Schriftsteller wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Maler wie Marc Chagall, Kommunistinnen wie Anna Seghers und Philosophinnen wie Hannah Arendt in Marseille.

Dort hat der Amerikaner Varian Fry eine Fluchthilfeorganisation aufgebaut, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, gerade diese Künstler und Künstlerinnen zu retten. Er verschafft ihnen Einreisevisa nach Amerika oder versucht es zumindest. Immer wieder werden ihm und ihnen Steine in den Weg geworfen, auch von amerikanischen Politikern und ihren Vertretern in den Konsulaten vor Ort.

Doch Fry gibt nicht auf. Auch als ihm selbst Gefahr droht, als er die Unterstützung seines Vereins, seiner Gönner und Spender zu verlieren droht, bleibt er in Marseille. Er ist davon überzeugt, dass er die Menschen, die von den Nazis verfolgt werden, retten muss.

Die Franzosen bekommen Listen mit Namen derjenigen, die sie ausliefern sollen. Und das Regime unter Pétain unterstützt dies. Also bleibt diesen Künstlern nur die Flucht. Auf abenteuerlichen Wegen, über die Pyrenäen, ohne Papiere oder nur mit gefälschten, versuchen sie, nach Lissabon zu kommen, dem einzigen Hafen auf dem europäischen Kontinent, von dem noch Schiffe nach Übersee aufbrechen.

Akribisch chronologisch geordnet, blitzlichtartig mal den einen Künstler, mal die eine Schriftstellerin auf der Flucht beobachtend, berichtet Uwe Wittstock in unübertrefflicher Weise von diesen gejagten Menschen, die oftmals all ihre Habe zurücklassen, teils in menschunwürdigen Sammellagern ausharren mussten, oft von ihren Angehörigen getrennt, ohne Nachricht von jenen.

Dabei macht der Autor durchaus darauf aufmerksam, dass es so vielen Menschen erging wie diesen berühmten, die jeder kennt. Nur von den namenlosen ist keine Geschichte hinterlassen, die man so anschaulich erzählen könnte. Deswegen nimmt er sich die Literaten zum Beispiel, um diese Schicksale zu zeigen.

Spannend wie ein Thriller, berührend und auch ermutigend aufgrund der zahlreichen Franzosen, die ungefragt helfen, die die Flüchtenden aufnehmen und verstecken, ist dieses Buch, das noch lange nachwirkt. Dabei bleibt dann auch unvergessen das Verhalten so manchen Amerikaners, der sich weigert, die vor allem jüdischen Menschen in den USA aufzunehmen. Da drängt sich der Gedanke auf, dass sich manches doch leider immer wiederholt.

Uwe Wittstock – Marseille 1940
C.H.Beck, Februar 2024
Gebundene Ausgabe, 351 Seiten, 26,00 €

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