Noch ein Roman um einen Autisten – anrührend und humorvoll, wenn auch nicht ganz klischeefrei
Es scheint ein wenig von einer Schwemme, die derzeitige hohe Zahl an Romanen mit autistischen Hauptfiguren. Die meist sehr liebenswert sind und deren Geschichte oft mit großem Einfühlungsvermögen erzählt wird.
Das gilt uneingeschränkt auch für dieses Buch der in England lebenden Autorin. Ihre Hauptfigur ist Joe-Nathan. Er lebt mit seiner Mutter allein, seit der geliebte Vater vor einiger Zeit starb. Janet, seine Mutter, ist bereits recht alt, war sie doch schon fast fünfzig, als Joe-Nathan geboren wurde.
Ihm sind Rituale und Regeln ungemein wichtig. Er tritt nie auf die Spalten zwischen den Gehweg-Platten, sein Lunchpaket muss immer gleich gepackt sein und jeden Freitag geht er mit seiner Mutter ins Pub. Samstags besuchen sie Friedhöfe, denn Joe liest gerne die Grabinschriften und macht sich darüber seine Gedanken.
Er arbeitet im Supermarkt und liebt es, die Dinge an ihren angestammten Platz zu räumen. Die Dosensuppen alle mit dem Etikett nach vorne auszurichten, die Rückläufer wieder in die richtigen Regale zu bringen. Hugo, der Chef, ist voller Verständnis, die Kollegen Charlie und Owen jedoch hänseln und tyrannisieren Joe immer wieder.
Doch es gibt auch Chloe und Pip, die beiden Kolleginnen, die auf Joe achten. Besonders Chloe, die nicht mit Schimpfwörtern geizt und auch mal zuschlägt, wenn jemand unfreundlich zu Joe ist, ist immer sehr besorgt um ihn. Und es gibt noch Hazel und Angus, die Nachbarn, die ebenfalls auf Joe-Nathan achten, das versprechen sie auch Janet, seiner Mutter.
Dann geschieht etwas, das Joe völlig aus der Bahn wirft. Er muss mit vielem neuem in seinem Leben klarkommen, muss neue Regeln lernen. Dabei helfen ihm das blaue und das gelbe Buch. Darin hat seine Mutter alles notiert, was ihm beim Bewältigen alltäglicher Probleme und Fragen helfen soll. Was tut man, wenn man jemanden besuchen möchte, wie gestaltet man eine Geburtstagsparty, was kann man wem schenken und vieles mehr. Dazu stehen darin Kochrezepte, die Orte, wo er was im Haus findet und allerlei anderes nützliches. Voller Liebe stecken diese Tipps und Hinweise, die Janet über Jahre aufgeschrieben hat. Für Joe werden diese Ratgeber zu einer Art Bibel, immer wieder zieht er sie zurate.
Besonders, als er möchte, dass Charlie sein Freund wird und er diesem helfen, ihm ein Geschenk machen will und ihn immer wieder besucht, braucht Joe diese Ratschläge. Stellen ihn doch gerade diese Besuche und das, was er dort erlebt, vor enorme Herausforderungen. So muss er neue Gesichtsausdrücke lesen lernen, muss Zurückweisung überwinden und sich Widerspruch entgegenstellen. Daran wächst der junge Mann über sich selbst heraus.
Der Höhepunkt kommt, als Joe, Chloe und Pip an einem vom Arbeitgeber organisierten Quiz teilnehmen.
Es dauert ein wenig, bis die Handlung wirklich Fahrt aufnimmt. Zuerst verliert sich die Geschichte etwas im Alltäglichen, schildert ein bisschen sehr ausführlich die Ausgangssituation. Dann aber ergreift sie, zieht in ihren Bann. Die Spannung erhöht sich, die Figuren sind es vor allem, die bei der Lektüre dafür sorgen, dass man der Handlung folgen muss, ohne das Buch aus der Hand legen zu können.
Auch wenn die Schilderungen nicht ganz klischeefrei bleiben, sowohl Joe wie auch Chloe oder Charlie keine noch nie dagewesenen Charaktere sind, so fesselt der Roman dennoch. Denn die Erzählung ist voller Emotion, ohne kitschig oder rührselig zu werden. Immer liegt in den Sätzen ein leiser, warmer Humor, viel Verständnis für die Eigenarten der Menschen. Dabei wird besonders deutlich, dass eben genau jeder Mensch solche Eigenarten hat, ganz egal, ob sie krankhaft oder „normal“ sind. Und die Geschichte zeigt, dass Vertrauen, Freundschaft und der Glaube, dass auch in allem Traurigen schöne Momente liegen können, viele Hürden überwinden helfen.
Ein sehr berührender Roman, unbedingt zu empfehlen.
Helen Fisher – Der kleine Kompass fürs Leben
aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Droemer, Juni 2024
Gebundene Ausgabe, 367 Seiten, 22,00 €