Ein Lehrer sorgt für Umwälzungen in einem Gymnasium – nicht gänzlich überzeugende Geschichte
Omero Romeo ist vor einigen Jahren erblindet. Nun möchte er zurück in seinen Lehrberuf, trotz der Schwierigkeiten, die seine Erblindung mit sich bringt. Er bekommt eine Aushilfsstelle als Lehrer für Naturwissenschaften in einer Klasse voller bisher gescheiterter Schüler:innen.
Die Jugendlichen stehen kurz vor dem Abitur, mancher hat bereits Klassen wiederholt, alle haben ihre Probleme, mit sich, der Familie, der Schule. Bisher ist die Schulsekretärin Patrizia die einzige, die ihnen Verständnis, Geduld und Hilfe entgegenbringt.
Bereits am ersten Tag muss Omero, um die Anwesenheit prüfen zu können, eine für die Schule und die 10 Schüler:innen völlig neue Methode anwenden. Er lässt jeden Jungen und jedes Mädchen erzählen, von sich, von den Sorgen, den Plänen, den Gefühlen. Im Anschluss betastet er mit seinen Fingern die Gesichter der jungen Menschen, um sie so wiedererkennen zu können.
So verfährt er nun immer wieder, stellt den Jugendlichen Fragen, die sie ausführlich beantworten, streicht dann mit seinen Fingern über ihre Gesichter. Nach anfänglichem Zögern beginnen die Jugendlichen sich für diese Methode zu begeistern. Denn der neue Lehrer geht auf sie ein, erklärt den Schulstoff in Gesprächen, statt von oben herab, lässt sie selbst zu neuen Erkenntnissen kommen, sich den Stoff erarbeiten.
Dabei öffnen sich die Schüler:innen, erzählen von ihren Ängsten, dem, was sie belastet. Da ist der Junge, der zwischen seinen geschiedenen Eltern pendelt, zerrissen, auch wegen der finanziellen Probleme des Vaters. Da ist das Mädchen, das abgetrieben hat und nun mit dieser Entscheidung hadert. Da ist derjenige, der boxt und damit Geld für seine Mutter verdient, da ist der Rapper, der seinen Song der Klasse schenkt.
Irgendwann möchte die Klasse die Methode von Omero für alle Klassen angewendet wissen, doch das Lehrerkollegium wehrt sich, vor allem der Direktor kämpft regelrecht gegen Omero. Schließlich weitet sich die Sache immer mehr aus, läuft aus dem Ruder, wird am Ende dann arg unrealistisch, wirkt übertrieben, überspitzt.
Zu Beginn fängt einen der Roman ein, berührt die Art und Weise, wie der Blinde mit seinen Schüler:innen umgeht, wie es ihm gelingt, ihnen näherzukommen, zu erreichen, dass sie sich ihm öffnen. Doch sehr bald nimmt das Ganze, insbesondere die Gespräche der Jugendlichen, sehr unwahrscheinliche Züge an. Diese nahezu hochprofessionelle Art der jungen Menschen, sich auszudrücken, zu sprechen, passt so überhaupt nicht zu ihrem Alter und ihrer Situation. Dazu kommen die immer langatmiger werdenden Einlassungen Omeros, der seitenlange Vorträge hält, in einer Sprache, die für Schüler:innen in diesem Alter eher noch nicht ganz verständlich ist und zu Themen, die immer wieder vom eigentlichen Unterrichtsstoff abweichen.
Zwischen die nach Monaten aufgebauten, in der Schule spielenden Kapitel sind Abschnitte aus dem Tagebuch des Lehrers eingefügt, stets bezugnehmend auf einen der Schüler, in welchen er aber vor allem in Rückblicken das eigene Leben, die eigenen Kindheit aufarbeitet.
Manche Sätze im Roman sind berührend und machen nachdenklich: „Es klingt paradox, aber das, was wir vor Augen haben, sehen wir nicht, denn statt wirklich zu sehen, wollen wir lediglich bestätigen haben, was wir bereits zu wissen glauben, und uns damit die Blindheit für das bewahren, was wir lieber nicht sehen wollen.“ (S. 17). „Wir sind bereit, uns den Augen der anderen zum Fraß vorzuwerfen und von ihnen verschlingen zu lassen, und fühlen wir uns den Ansprüchen gewachsen, bringen wir uns mit anbiedernden Posen als Opfer dar.“ (S. 79)
Dann aber wird es irgendwann unbehaglich, wenn der Autor bzw. sein Protagonist beispielsweise die Weiße Rose, die Widerstandsgruppe während des zweiten Weltkriegs, als Metapher heranzieht, mit der Schüler:innengruppe vergleicht. Hier vergreift sich der Autor m.E. im Ton, hier geht der Vergleich, wie in diesem Beispiel, absolut daneben: „Nun aber verbreiten sich die Geschichten Hunderter junger Menschen und können nicht mehr aufgehalten werden, wie einst die Flugblätter der Weißen Rose, die zu Tausenden auf die Städte niederregneten wie Bomben, die statt Tod das Leben brachten.“ (S. 268)
Vom Ansatz her ein sehr interessanter Plot mit einem ungewöhnlichen und damit spannenden Protagonisten, aber in der Umsetzung zum einen langatmig, ausschweifend, zum anderen vielfach unrealistisch.
Alessandro D’Avenia – Der blinde Lehrer
aus dem Italienischen von Verena von Koskull
btb, Oktober 2024
Taschenbuch, 400 Seiten, 14,00 €