Es war ganz eindeutig der Titel, der mich neugierig machte auf dieses Buch. Von der Autorin hatte ich vorher noch nicht gehört, geschweige denn, etwas gelesen.
Lea Streisand ist 1979 in Berlin zur Welt gekommen, in Ostberlin wohlgemerkt. Der Roman ist, so vermute ich mal, stark von ihren eigenen Erlebnissen beeinflusst, angereichert mit Erfundenem.
Sie erzählt von einer Kindheit in der DDR, vom Schulalltag, von Kinderspielen in dunklen Hinterhöfen und auf hohen Dächern, von Freundschaft und von Geheimnissen der Erwachsenen. Und selbstverständlich vom Mauerfall und dem Ende der DDR.
Die Handlung spannt sich von 1986, kurz vor der Einschulung der kleinen Franzi, der Ich-Erzählerin des Romans, bis zu ihrem Erwachsenwerden.
Die Autorin richtet den Blick nicht auf die großen Namen der Geschichte, stellt nicht die national bedeutenden Ereignisse in den Mittelpunkt. Die in ihrem Roman auftretenden Menschen haben mit ihrem eigenen, kleinen Alltag zu tun. Zuerst mit dem Mangel und den Verhältnissen in der DDR, später mit den Veränderungen, die sie nicht aufhalten können, aber verkraften müssen.
Mich hat an dem Roman vor allem beeindruckt, wie gut es Lea Streisand gelingt, immer den zum jeweiligen Alter passenden Tonfall zu finden, mit dem uns Franzi von ihrem Leben erzählt. Wenn Franzi sich auf die Schule freut und auf ihre Aufnahme bei den Jungpionieren, wenn sie sich ärgert, weil ihre Eltern immer Geheimtreffen mit anderen Erwachsenen in ihrer Küche haben, von denen sie nichts mitkriegen darf, wenn sie im Park einen Exhibitionisten beobachtet und ihn in ein Gespräch verwickelt, weil sie meint, ihm durch Ablenkung zu helfen, oder wenn sie mit einer Freundin am Straßenrand auf die „Kapitalisten aus dem Westen“ wartet, die das Geld aus dem Autofenster werfen, das sie vom Zwangsumtausch übrig haben – dann ist der Leser sehr nah dran an diesem Kind, das hier von seiner eigenen, kleinen Welt erzählt. Der Welt am Prenzlauer Berg in Berlin mit den sanierungsbedürftigen Altbauwohnungen, wo sich ihr Leben abspielt.
Nach der Wiedervereinigung fällt es ihr schwer, sich an all die neuen Dinge zu gewöhnen. Sie beobachtet sehr genau, was um sie herum geschieht, wie viele Lehrer plötzlich nicht mehr erscheinen und welche Schwierigkeiten andere haben, sich an die neue Lebens- und Erziehungsweise anzupassen. Es ist urkomisch, wie Franzi sich ihre Erklärungen für all das unverständliche Verhalten der Erwachsenen zurechtbastelt. Es ist herrlich, zu welchen philosophischen Erkenntnissen sie und ihre Freunde kommen.
Mit dem Älterwerden und der Pubertät kommen die Probleme und Kämpfe, die wir alle aus dieser Zeit unseres Lebens kennen, verstärkt durch die immer noch vorhandenen Unterschiede zwischen den Ost- und den Westdeutschen. Und Franzi hat einen Blick für diese Unterschiede, sie beobachtet sehr genau.
„Ich … betrachtete die Mitreisenden. Man konnte deutlich
erkennen, wer aus dem Osten kam und wer aus dem Westen. Man sah es an der
Kleidung …
Manchmal zählte ich in Gedanken nach, wie viele Kleidungsstücke, die ich gerade
am Leib hatte, aus dem Westen waren und wie viele aus dem Osten, obwohl das
meiste vermutlich schon zu DDR-Zeiten aus dem Westen kam. Ich lebte in einem
sehr ausgeprägten Vorher-nachher-Bewusstsein.
Und irgendwann stand ich auf dem Bahnsteig am Bahnhof Friedrichstraße und
stellt fest, dass nur noch mein Schlüpfer und meine Socken „von früher“ waren.
Bald bin ich angekommen, dachte ich.“ (S. 168).
Die Gedankengänge auf dem Weg vom Kind zur Erwachsenen authentisch darzustellen, das ist es, was Lea Streisand hervorragend gelungen ist. Und das ist es, warum mir der Roman so gut gefallen hat.
Lea Streisand: Hufeland, Ecke Bötzow
Ullstein, Oktober 2019
Gebundene Ausgabe, 222 Seiten
20,00 €