Vielschichtiger, figurenreicher historischer Kriminalroman
Wieder ein zweiter Band aus einer Reihe, deren ersten ich leider verpasst habe. Doch auch ohne den Inhalt der ersten Folge zu kennen, versteht man diesen neuen Krimi durchaus, der seine Spannung erst nach und nach entwickelt.
Die Handlung dieses in den zwanziger Jahres des zwanzigsten Jahrhunderts spielenden Krimis zusammenzufassen ist gar nicht so einfach. Denn die Story ist sehr wendungsreich, verlangt einiges an Geschichtskenntnissen und hat vor allem (zu) viele Handlungsorte und Figuren.
Das belastet gleich den Einstieg in den Roman, der frühere Ereignisse schildert und dort bereits etliche Figuren einführt, jeweils mit vollem Namen und zuerst nur wenig Hintergrund. Und es geht genauso weiter, in jeder Szene treten enorm viele Personen auf, von denen man stets den vollen Namen erfährt, die Beschreibung und zunächst aber nur wenig darüber, welche Rolle sie für den Roman, für die Handlung spielen. So stellt man sich bei jedem neuen Auftritt die Frage: Muss ich mir diese Figur merken oder taucht sie vielleicht nie wieder auf?
Dadurch ist man fast von der eigentlichen Handlung abgelenkt, in dem Versuch, den Überblick über dieses umfangreiche Figurentableau zu behalten. Zumal man nicht nur den beiden Hauptfiguren, dem aus Berlin stammenden Kommissar Aaron Singer und seinem in Königsberg heimischen Kollegen Heinrich Puschkat folgt, sondern viele Szenen viele Ereignisse aus der Sicht anderer Charaktere schildern. Kurzum, der Roman verlangt eine hohe Konzentration.
Wenn man aber durchhält, wird man mit einer vielschichtigen, komplexen und wirklich gut ausgearbeiteten Geschichte belohnt. Sie beginnt mit der Ermordung eines jungen Soldaten in einer Königsberger Kaserne. Es stellt sich heraus, dass er starb, weil aus der Kaserne ein größeres Kontingent Waffen und Munition gestohlen wurde. Die beiden Ermittler versuchen den Mord und den Diebstahl aufzuklären. Singer erfährt von einem Berliner Kontakt, welche politischen Hintergründe dahinter liegen und welche diversen Geheimbünde hier ihre Pläne schmieden. Es geht um die Zukunft Ostpreußens, welches mal zu Polen, mal zu Russland, mal zu Deutschland gehörte und nun quasi völlig zerrissen ist. Was selbstverständlich für erheblichen Unmut unter der Bevölkerung sorgt, so dass man nun einen Putsch befürchtet.
Singer beginnt inkognito zu ermitteln, begleitet von seiner derzeitigen Freundin Ella, die seiner Tarnung dient. Er wird, da Jude, nicht immer überall mit offenen Armen und freundlich empfangen. Auch Kollege Puschkat ist nicht immer begeistert von Singers Arbeitsweise, die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein.
Auch wenn es etwas dauert, so ist ab etwa der Hälfte die Spannung auf hohem Niveau, die Hauptfiguren sind plastisch dargestellt, so dass man sich gut in sie einfühlen kann und mit ihnen mitfiebert. Der Schreibstil ist gefällig, nichts lenkt von der Handlung ab, es gibt keine überflüssigen Nebenstränge, keine bremsenden, weil überflüssigen Szenen. Allerdings ist es hilfreich, sich ein wenig über die historischen und geografischen Zusammenhänge zu informieren, damit man auch wirklich allen Verwicklungen und Intrigen einigermaßen folgen kann. Dann macht der Roman wirklich Spaß und das Bedauern, den ersten Band verpasst zu haben, wächst noch mehr. Daher hoffe ich nun auf eine weitere Folge mit den beiden sympathischen, unverkrampften Kommissaren, zumal sowohl Region wie zeitlicher Zusammenhang schon ganz allein spannend sind.
Ralf Thiesen – Krähen über Königsberg
Goldmann, Dezember 2024
Taschenbuch, 526 Seiten, 13,00 €