Natürlich erinnert der Roman an die berühmten Bücher von Jean M. Auel um „Ayla und den Clan der Bären“, in denen es ebenfalls um die Menschen vor Zehntausenden Jahren ging. Und doch ist das vorliegende Buch anders.
Denn Claire Cameron erzählt auf zwei weit auseinanderliegenden Zeitebenen die Geschichten von zwei völlig unterschiedlichen Frauen, die doch so vieles gemeinsam haben.
Mädchen ist eine junge Neandertalerin, die mit ihrer Familie, bestehend aus ihrer Mutter, zwei Brüdern und einem „Mickerling“ genannten Findelkind, vor 40.000 Jahren den täglichen Kampf ums Überleben austrägt. Die ausreichende Versorgung mit Nahrung ist die vorrangige treibende Kraft, wie auch die Verteidigung dieser Nahrung gegen tierische oder menschliche Räuber und die Verteidigung des eigenen Lebens gegen gefährliche Tiere. Höhepunkt im Leben der heranwachsenden Neandertaler ist das Treffen am „Fischsprung“, das auch in gewisser Weise ein Art Heiratsmarkt ist. Mädchens Mutter ist darauf bedacht, dass ihre Tochter unversehrt dort ankommt, doch die Triebe zwischen Mädchen und Er, ihrem Bruder, sind stärker. Als Konsequenz wird Mädchen aus der Familie verstoßen und muss nun für sich allein sorgen.
Rose ist eine junge Archäologin, die in der heutigen Zeit mit einem kleinen Trupp von Hilfskräften eine Ausgrabung in Frankreich leitet. Sie entdeckt zwei sich zugewandte Skelette, die einer Neandertalerin und eines Homo sapiens, die beide ganz offensichtlich gleichzeitig gelebt haben und sich begegnet sind. Das ist eine wissenschaftliche Sensation, ging man doch davon aus, dass sich die beiden Vorfahren der heutigen Menschen so gut wie nie begegneten und noch weniger, dass sie miteinander kommunizierten oder gar lebten. Das Paar, das Rose ausgräbt, wirkt auf sie wie ein Liebespaar. Rose kämpft nicht nur darum, die nötige finanzielle Unterstützung für ihre Forschungen zu bekommen und ihre Ausgrabung vor unwillkommenen Störungen zu schützen, sondern sie kämpft auch noch gegen die Zeit. Denn sie ist schwanger und will dennoch die Leitung der Grabung nicht abgeben, wissend, dass sie diese vor der Geburt ihres Kindes jedoch nicht wird abschließen können. Dieses innerliche Ringen, das Rose zwingt, ihre Prioritäten zu überdenken, steht im Mittelpunkt ihrer Geschichte.
Die beiden Erzählebenen sind naturgemäß sehr unterschiedlich im Schreibstil. Die Geschehnisse um Rose lesen sich flott, sind spannend und erzeugen große Anteilnahme am Dilemma, in welchem die Protagonistin steckt, in welchem heute immer wieder Frauen stecken, die Kind und Karriere irgendwie in Einklang bringen müssen.
Die Geschichte von Mädchen hingegen ist, schon bedingt durch die fast gänzlich fehlenden Dialoge aufgrund der rudimentären Sprache der Neandertaler, eher etwas ruhiger erzählt. Dabei ist auch sie hochspannend und besonders die Kampfszenen, in denen die Hauptfigur mit Bisons oder Leoparden ringt, sind ungemein fesselnd geschrieben. Dennoch sorgt ein gewisses Interesse an der Lebensweise und dem Verhalten der Neandertaler für eine größere Freude an diesem Buch, das aber durchaus auch aktuelle Themen von heute aufgreift, wie eben vor allem die Frage der Stellung von Frauen in der Gesellschaft, der von heute ebenso wie der der Neandertaler.
Claire Cameron – Neandertal
aus dem Englischen von Marie Rahn
btb, Juli 2020
Taschenbuch, 360 Seiten, 11,00 €
Klingt super interessant. Ich stelle mir die Menschen vor 40000 Jahren zwar viel entwickelter vor, mit einer Sprache, die unserer in nichts nachsteht, aber wissen kann man es nicht.