Was für ein Roman! Dieser Roman vom wunderbaren Daniel Glattauer zieht einem die Schuhe aus. Und man wird ihn so schnell nicht vergessen.
In einzigartiger, bissiger und sehr österreichischer Weise erzählt der Autor, dessen „Gut gegen Nordwind“ wohl heute jeder kennt und liebt, von Ereignissen innerhalb dreier Familien. Die durch einen dramatischen Schicksalsschlag verbunden werden, der sie aber gleichzeitig auch brutal trennt.
Dabei ist die Art, wie Glattauer diese Geschichte erzählt, ungemein wirkungsvoll. Gleich am Anfang bekommt an den Eindruck, ein Theaterstück zu sehen, ein Beobachter zu sein, der nicht nur zuschaut, sondern quasi parallel einen Kommentar des Erzählers mitgeliefert bekommt. Der sich jedoch nicht in lesbaren Worten, sondern in Formulierungen, in Adverbien und Adjektiven, in zwischen den Zeilen liegendem Sarkasmus zeigt. Und der die Gesellschaft, die Menschen, derart seziert, als lägen sie auf einer Petrischale unter dem Mikroskop.
Die Familien Binder und Strobl-Martinek sind befreundet. Sie fahren gemeinsam mit ihren zusammen drei Kindern in Urlaub in die Toskana. Sophie Luise, die ältere Tochter der Strobl-Martineks darf ihre Freundin Aayana mitnehmen, Tochter somalischer Flüchtlinge, die mit ihr in eine Klasse geht. Das fremde Kind ist still, schüchtern, ängstlich. Und soll, so der Plan, im Pool des Ferienhauses schwimmen lernen.
Doch dann geschieht ein Unglück, das alles zerstört, alles mit in den Abgrund reißt. Nur, das eigentliche Unglück trifft nicht die Binders und die Strobl-Martineks. Die aber dennoch alles auf sich beziehen, die an ihrem eigenen Leid leiden. Und sich wenig dafür interessieren, wie es denen ergeht, die wirklich betroffen sind.
Dabei gelingt es Glattauer geradezu fulminant, die Figuren zu erschaffen, sie vorzuführen. Den sich über allem erhaben fühlenden Oskar Marinek und seine Frau, die Grüne Politikerin Elisa Strobl-Martinek. Daneben die Binders, Melanie, überaus gefühlvoll und sensibel, und ihr Mann Engelbert, bodenständiger und etwas unbeholfener Winzer. Und schließlich die 15-jährige Sophie Luise, die sich nach dem Vorfall immer mehr in sich selbst zurückzieht und einzig das Internet als Kommunikationsmittel für sich in Anspruch nimmt.
Dazu kommt der Anwalt der Strobl-Marineks, der Herr Steinpichler, geradezu die Personifizierung der Selbstverliebtheit, und sein Gegenpart, der zerrüttete und kranke Anwalt Wilenitsch. Keine der Figuren wird verschont, selbst die beiden jüngeren Kinder, vor allem die kleine Schwester Sophie Luises, Lotte, werden ungeschönt dargestellt.
Doch eigentlich geht es um die Selbstbezogenheit, den Egoismus, die Doppelmoral und die Ignoranz der heutigen Gesellschaft, insbesondere der Gutsituierten, der Etablierten, die nicht mehr hinsehen, die nichts wissen wollen vom Elend der anderen. Die nur Betroffenheit fühlen, wenn es sie selbst betrifft. All das legt Glattauer so dezidiert offen, dass es schmerzt. Ja, dass man sich selbst hinterfragt. Wie hätte ich in dieser Situation gehandelt?
Und damit hat er etwas wichtiges erreicht. Wenn nur möglichst viele Menschen dieses Buch lesen.
Daniel Glattauer – Die spürst du nicht
Zsolnay, März 2023
Gebundene Ausgabe, 304 Seiten, 25,00 €