Delphine de Vigan hat einen neuen, glühenden Fan gewonnen. Der mir bislang zugegebenermaßen unbekannten Autorin gelingt etwas, woran andere scheitern. Sie schildert das Altwerden, das Vergessen und sich Verlieren mit einer großen Empathie, mit Mitgefühl und Verständnis und dabei vollkommen ohne Pathos, Gefühlsduselei oder Überheblichkeit.
Michka ist alt, sie verliert Dinge und sie verliert Worte, täglich mehr. Sie ersetzt sie durch andere, ähnlich klingende. Als sie allein nicht mehr zurechtkommt, bringt Marie sie in einem Altersheim unter.
Marie ist eine junge Frau, die als Kind früher von Michka versorgt wurde. Marie hat eine starke Bindung an Michka, liebt sie und besucht sie regelmäßig. Für Michka ist es schwer, sich im Heim einzuleben, sich zurechtzufinden. Sie gewöhnt sich nicht an den Verlust ihrer Selbstständigkeit, ihrer Privatsphäre. Sie hat Albträume von einer furchterregenden Heimleiterin, in denen sie die Worte noch weiß, sie der Frau aber hilflos ausgeliefert ist.
Neben Maries Besuchen ist ihr weiterer einziger Lichtblick Jérôme, der Logopäde, der zweimal in der Woche zu ihr kommt. Er will ihr helfen, den Verlust der Wörter aufhalten. Doch die Aphasie erweist sich als stärker, Michka findet immer weniger die Worte, ihr fällt es immer schwerer, sich verständlich zu machen.
Marie und Jérôme erzählen uns von Michka, abwechselnd und liebevoll. Dabei sind beide besonders bemüht, Michka mit Würde zu behandeln und nicht, wie es so oft geschieht, wie ein unmündiges Kind. Und Michka nimmt warmen Anteil am Leben der Beiden, die sich nicht begegnen. Sie drängt Jérôme das Zerwürfnis mit seinem Vater auszuräumen, sie steht Marie bei, als diese schwanger wird.
Michka hat einen großen Wunsch. Sie sucht verzweifelt nach einem Ehepaar, das sie als Kind im Zweiten Weltkrieg bei sich aufnahm und vor den Deutschen versteckte. Sie weiß nur deren Vornamen und den Ort, in dem sie damals lebten. Marie gibt für sie wiederholt eine Suchanzeige auf, aber niemand meldet sich. Doch für Michka ist es so wichtig, den Menschen, die ihr das Leben retteten, danken zu können. Bevor es zu spät ist.
Der fortschreitende Verfall von Michka, den Delphine de Vigan ehrlich und wahrhaftig, dabei aber warmherzig und mitfühlend beschreibt, die zunehmende Sprachlosigkeit und das Ausmaß, in dem Michka genau darunter leidet, es berührt und rührt. Jérôme, der täglich den Anblick der verfallenden Körper vor Augen hat und darin die Körper der Jugend sucht, kämpfte zuerst mit diesem Verfall. Anfangs schrie eine Stimme in meinem Kopf: Aber was ist nur geschehen? Wie ist das möglich? Ist es wirklich das, was uns alle erwartet, ausnahmslos? Gibt es keine Abzweigung, keine Umgehungs- oder Nebenstrecke, um dieser Katastrophe zu entkommen? (S. 40). Doch jetzt fühlt er sich am richtigen Platz, dort wo er ist.
Bei all dem ist das Buch ein Mutmacher, es zeigt uns, dass nichts unerträglich ist, wenn man geliebt wird, wenn man Zuneigung, Mitgefühl und Dankbarkeit entgegengebracht bekommt.
Delphine de Vigan hat für ihre bisherigen Romane mehrere Preise bekommen und die französischen Bestsellerlisten erklommen. Übersetzt wurde dieses Buch von Doris Heinemann, die ich besonders dafür bewundere, wie geschickt und einfühlsam sie Michkas Suche nach Worten und ihre fantasievollen Wortfindungen übersetzt hat. Gerne hätte ich hier an mancher Stelle einmal zum Vergleich einen Blick in das französische Original geworfen.
Dieses Buch ist für mich ein absolutes Highlight der letzten Monate. Und es wird sicher nicht das einzige bleiben, das ich von dieser Autorin lese.
Delphine de Vigan: Dankbarkeiten
DuMont, März 2020
Gebundene Ausgabe, 166 Seiten, 20,00 €