Ein geradezu grausames Buch, das umso wirkungsvoller ist, da diese Geschichte jedem von uns jeden Tag passieren könnte. So realitätsnah ist sie. Und so erschütternd gut ist sie geschrieben.
In die Protagonistin dieses kleinen Romans kann sich jeder, der berufstätig ist, mit Leichtigkeit einfühlen. Mathilde, früh verwitwet, lebt allein mit ihren drei Söhnen, ein Zwillingspaar und deren älterer Bruder. Sie liebt ihre Arbeit, bei der sie sich immer anerkannt fühlte und wo sie bisher erfolgreich und beliebt war. Doch das ändert sich schlagartig, ohne dass es ihr gelingt, die Ursache für diese gravierende Änderung zu ergründen.
Mathilde hatte auch zu ihrem Vorgesetzen bislang eine, wie sie glaubte, gute und tragfähige Beziehung. Doch von einem Tag auf den anderen beginnt er, sie zu mobben, ja regelrecht zu drangsalieren. Zuerst denkt sie an ein Missverständnis, erträgt die Schikanen, sucht das Gespräch mit Jacques, ihrem Vorgesetzten. Doch der weigert sich, mit ihr zu sprechen, ihr irgendetwas zu erklären. Die Dinge eskalieren immer mehr, Mathilde wird von wichtigen Besprechungen ausgeschlossen, Benachrichtigungen erreichen sie nicht mehr, schließlich wird sie sogar aus ihrem Büro verdrängt.
Immer noch glaubt sie, hofft sie, die Dinge aufklären zu können, doch auch die Kollegen wenden sich von ihr ab. Jacques beginnt, sie mit erfundenen Vorwürfen zu überhäufen, so dass die Verzweiflung in Mathilde immer größer wird, bis sie sogar Mordfantasien hat. Eine letzte Hoffnung setzt sie in den 20. Mai. Für diesen Tag hat ihr eine Wahrsagerin eine besondere Begegnung prophezeit.
Ein paralleler Handlungsstrang erzählt von Thibault, einem Notarzt. Er liebt Lila, die jedoch seine Liebe nicht erwidert. Am 20. Mai kehren die Beiden von einem Ausflug nach Paris zurück und Thibault muss im Anschluss diverse Hausbesuche erledigen, um medizinische Notfälle zu betreuen. Während er von Patient zu Patient fährt, reflektiert er über sein Leben, seine Liebe und die Menschen. Dieser Teil des Romans hat mich ehrlich gesagt nicht so erreicht, waren die Gedanken für mich nicht so gut nachvollziehbar. Dennoch ist auch in diesem Part der Stil der Autorin wie maßgeschneidert für die Figur.
Delphine de Vigan, von deren im vergangenen Jahr veröffentlichten Roman „Dankbarkeiten“ ich begeistert war, gelingt es auch mit diesem Buch, das im Original im Jahr 2009 erschien, mich zu fesseln. Ihre Sprache ist klar, emotionslos, fast wirkt sie nackt. Die Worte und Bilder, die sie verwendet, um Mathildes Zweifel, ihre Suche nach Gründen, nach Schuld, ihre Verzweiflung, die sich allmählich in Wut wandelt und andererseits ihre liebevolle Beziehung zu ihren Söhnen zu beschreiben, sind so treffend, so prägnant, dass man ihren Schmerz fast körperlich spürt. Das ist beängstigend, da man sich unweigerlich fragt: kann mir das auch geschehen?
Ein Roman, der unter die Haut geht.
Delphine de Vigan – Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin
aus dem Französischen von Doris Heinemann
DuMont, Februar 2021
Taschenbuch, 252 Seiten, 12,00 €
Schau auch hier: Delphine de Vigan: Dankbarkeiten