Das zweite Buch des Autors um die Oxforder Mathematiker hat mir sogar noch besser gefallen als der erste Band, der den Titel „Die Oxford-Morde“ trug und den ich vor wenigen Wochen rezensiert habe.
Diesen ersten Band, der im Eichborn-Verlag 2006 unter einem anderen Titel schon einmal veröffentlicht worden war, brachte der Verlag jetzt zeitgleich mit dem zweiten Band noch einmal heraus. Zwischen den spanischen Originalfassungen liegen dagegen 16 Jahre.
Wieder begegnen wir, jetzt im Jahr 1994, dem argentinischen Austausch-Doktoranden, dessen Name, wie schon im ersten Buch, nie genannt wird. Immer wird darauf verwiesen, er sei für englische Zungen zu schwer auszusprechen, allenfalls wird er mit G. abgekürzt. Soll uns das darauf hinweisen, dass der Autor selbst der Erzähler ist…?
G. arbeitet daran, ein Programm zu entwickeln, mit dem es möglich sein soll, die Linienführung einer Schrift nachzuvollziehen, die Bewegung im Moment des Schreibens. Damit soll es gelingen, die Schrift von Kopisten von der des Urhebers des Originals eines Schriftstücks zu unterscheiden. Genau dieses Programm soll nun zum Einsatz kommen, wenn G. wieder durch den von ihm verehrten und bewunderten Arthur Seldom in Berührung mit Verbrechen gebracht wird.
Eine junge Wissenschaftlerin wird von der Lewis-Carroll-Bruderschaft beauftragt, noch unbearbeitete Tagebücher des Autors von „Alice im Wunderland“ zu katalogisieren und zu untersuchen, denn die Bruderschaft plant, alle Tagebücher neu zu veröffentlichen. Dabei macht Kristen Hill, die junge Frau, einen sensationellen Fund in Form einer Notiz auf einer aus einem Tagebuch herausgerissenen Seite. Diesen Zettel nimmt sie widerrechtlich an sich und löst damit eine Kette von Ereignissen – Unfälle und Todesfälle – aus, deren Motive und deren Täter Seldom erneut gemeinsam mit dem Erzähler herauszufinden versucht.
Die Mitglieder der Lewis-Carroll-Bruderschaft, darunter nur zwei Frauen, sind vorrangig ehemalige Forscher in sehr hohem Alter. Der Autor versteht es herrlich, diese Greise, ihre gegenseitige Abneigung, getrieben von Neid und Missgunst, ihre Gebrechen und Eitelkeiten, aber auch ihre latenten Ängste, schlecht verheilten Narben und nie aufgegebenen Träume zu beschreiben. Diese wunderbar verständnisvolle, manchmal verschmitzte Zeichnung der Figuren ist absolut gelungen – nicht umsonst ist dieser Roman mit Preisen ausgezeichnet worden.
Und wieder schafft es Martinez, die beiden Mathematiker wie auch den Kommissar, und leider auch die Leserin, mehrfach auf absolut falsche Fährten zu locken. So werden den künftigen Opfern der vollbrachten wie auch der missglückten Morde Fotos zugesandt, die auf die, in Forscherkreisen umstrittene, mögliche Pädophilie Carrolls hinweisen. Dabei zieht der Autor geschickt Vergleiche zwischen der Viktorianischen Ansicht zu Nacktfotos von Kindern und der heutigen Interpretation bzw. strikten Ablehnung. Die Diskussionen unter den Forschern der Bruderschaft, die natürlich alle große Fans von Lewis Carroll sind, sind mit die interessantesten Abschnitte in dem durchweg spannenden und interessanten Kriminalroman. Was nun die Fotos aussagen sollen, warum sie den Anschlagsopfern mal vor, mal nach der Tat zugeschickt werden und ob die Aufnahmen überhaupt aus der Zeit Carrolls stammen oder doch nicht – diese Fragen treiben Seldom und seinen jungen Adlatus G. an. Und natürlich steht über allem die wichtigste Frage: was steht auf dem von Kristen entwendeten und versteckten Stück aus dem Tagebuch Carrolls? Wird es wirklich dazu führen, dass die Forschungsergebnisse vieler Jahrzehnte neu geschrieben werden müssen?
Mehr über den Inhalt möchte ich hier nicht verraten. Liebhaber intelligenter Krimis werden diesen Roman lieben, ich kann ihn nur empfehlen. Ihn zu lesen macht großes Vergnügen.
Guillermo Martinez: Der Fall Alice im Wunderland
Eichborn, Mai 2020
Paperback, 315 Seiten, 16,00 €
Hier findest du meine Rezension eines weiteren Buchs dieses Autors: https://www.renas-wortwelt.de/2020/07/05/guillermo-martinez-die-oxford-morde/