Janine Adomeit – Die erste halbe Stunde im Paradies

⭐⭐⭐⭐⭐

Ein Roman um Zusammenhalt, Enttäuschung und Verzeihen, großartig erzählt

Wer schon länger meine Rezensionen liest, weiß, dass ich monoperspektivisch erzählte Romane bevorzuge. Somit hatte das neue Buch der wirklich sehr begabten Janine Adomeit – ihr vorheriger Roman „Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen“ hatte mich bereits begeistert – schon vorab gute Chancen, denn es erzählt die Geschichte von Anne und ihrem älteren Bruder Kai durchgängig und konsequent nur aus Sicht der jungen Frau.

Beziehungsweise des Kindes Anne, denn der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Im Heute ist Anne Anfang Dreißig, Pharmaberaterin und gerade auf einer Firmenveranstaltung, wo sie einen für ihre Karriere wichtigen Vortrag halten soll. Die andere Zeitebene zeigt Anne als Kind im Grundschulalter. Hier erleben wir mit, wie sie und ihr einige Jahre älterer Bruder Kai immer mehr die Versorgung und Pflege ihrer Mutter übernehmen müssen.

Denn die Mutter erkrankt schwer, woran, wird nur beschrieben, nicht mit Namen benannt. Mit der Zeit kann sie immer weniger selbst verrichten, die Kinder müssen sie irgendwann sogar waschen und anziehen. Ihr Körper verfällt, sie kann kaum noch gehen, nicht fest zugreifen, auch das Stehen fällt ihr immer schwerer, nur noch ihre Musik bleibt ihr, zumindest auf CD, ihr, der Sängerin und Musikerin, die damit einst Säle füllte und gut verdiente. Doch die Mutter will keine Hilfe von außerhalb, aus Angst, dass man ihr Anne wegnimmt, die Vormundschaft entzieht, weil sie nicht mehr allein für das Kind sorgen kann.

Die Väter von Kai und Anne, es gibt derer zwei, sind bei den Kindern nicht beliebt und somit auch keine Lösung. So kommt es, wie man es erwarten muss, irgendwann ist vor allem Anne mit all dem überfordert, immerhin ist sie zu diesem Zeitpunkt gerade mal 10 oder 11 Jahre alt. Die Situation eskaliert schließlich, was zu einer viele Jahre andauernden Entfremdung zwischen Anne und Kai führt, die als Kinder fast symbiotisch aneinander hingen.

Erst jetzt, als Anne sich auf den wichtigen Vortrag vorbereiten muss, meldet sich Kai, will von ihr aus einer Entzugsklinik abgeholt und zu seiner neuen Unterkunft gebracht werden. Fast gegen ihren eigenen Willen fährt Anne tatsächlich los, doch auf der Rückfahrt stecken sie in einer sehr großen Schafherde fest und kommen so erstmal eine geraume Zeit nicht weiter. Während dieses Zwangsaufenthalts kommen die alten Wunden zum Vorschein, wird manches erklärt, anderes bleibt unerzählt, unverstanden.

All das, beide Zeitebenen, schildert Janine Adomeit mit einen unglaublich feinen Gespür für verletzte Gefühle, für Vorwürfe gegen den andern und vor allem die gegen sich selbst. Es gelingt ihr die empathische Darstellung der Zerrissenheit Annes sowohl während der Kindheit, als sie zuerst stolz ist, so viel für die Mutter tun zu können und am Ende aber sehr wütend auf die Mutter, die sich oft ihrer Hilfe widersetzt. Diese inneren und äußeren Konflikte, die Wut und Enttäuschung über den vermeintlichen Verrat Kais und vor allem den daraus resultierenden Verlust des geliebten Bruders, das beschreibt die Autorin ohne Rührseligkeit, ohne Kitsch und ganz ohne auf Klischees zurückzugreifen. Sie schafft es, dass man durch den Roman, vor allem die Szenen aus der Kindheit Annes, durchjagt, hin und her gerissen zwischen Mitleid mit dem Mädchen, Mitgefühl und einem gewissen Verständnis für die kranke Mutter und einem ebenso vorhandenen Verstehen des Verhaltens des gerade volljährig gewordenen Sohns.

Ein Roman, der nachdenklich macht, der berührt ohne zu dramatisieren. Ein Roman um eine eigentlich glückliche, weil voller Liebe steckende Familie, die dann aber doch an den Verhältnissen, an der Erkrankung der Mutter zerbricht. Unbedingt lesenswert.

Janine Adomeit – Die erste halbe Stunde im Paradies
Arche, Februar 2025
Gebundene Ausgabe, 271 Seiten, 23,00 €


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