Zwei Mädchen auf gefährlicher Mörderjagd im Yorkshire der 70er Jahre
Der Yorkshire-Ripper (den es wirklich gab) geht um und die kleine Miv fürchtet, nur deswegen wolle ihre Familie wegziehen. Das gilt es zu verhindern, will sie doch vor allem ihre beste Freundin Sharon nicht verlieren.
Also beschließt das Mädchen, sie müssen den Mörder finden. Sie beginnt ein Notizbuch zu führen, worin sie all die ihr verdächtig vorkommenden Menschen und Ereignisse sorgsam einträgt. Dass bei all dem Beobachten, Verfolgen und all den Heimlichkeiten sie selbst und auch Sharon in Gefahr geraten können, bedenkt sie zuerst nicht. Sie wird aber recht schnell eines Besseren belehrt.
Miv und Sharon, zu Beginn der Geschichte gerade etwas älter als 10 Jahre, sind gute Freundinnen, obwohl sie völlig unterschiedlich sind. Miv wächst in beschränkten Wohnverhältnissen auf, versorgt von ihrer Tante, seit ihre Mutter schweigt und in stetig wachsender Depression versinkt. Ihr Vater, mit der Situation überfordert, tut sein Bestes. Sharon dagegen wächst sehr behütet auf, bei gut situierten, sie umhegenden Eltern.
Und Sharon ist ein sehr empathisches kleines Mädchen, mit starkem Gerechtigkeitssinn, hohem Einfühlungsvermögen, ausgeprägtem Mitgefühl und steter Freundlichkeit. Während Miv eher bodenständig ist, ihre Gedanken ohne viel Nachdenken offen ausspricht und mit viel Verwunderung auf die Welt der Erwachsenen schaut.
So reagieren auch beide zuerst unterschiedlich, wenn sie mit Rassismus, Mobbing, Ausgrenzung, Demütigungen konfrontiert werden. Das geschieht beispielsweise dem farbigen Ladenbesitzer, dessen Sohn von den Mitschülern schikaniert und dessen Laden mit üblen Sprüchen beschmiert wird.
All das notiert Miv in ihrem Buch, lernt so viel über die Menschen in ihrer Nachbarschaft, über ihre Lehrer, die Bibliothekarin, besagten Ladenbesitzer und auch über ihren eigenen Vater.
Auf diese Weise schildert Jennie Godfrey, deren Debütroman dieses Buch ist, die Verhältnisse in England zu Beginn der Thatcher-Regierung. Mit bewusstem Blick für die Probleme und die Lebenszustände der Menschen in dieser englischen Region, geprägt durch die fehlenden Arbeitsplätze, den Rückgang der Textilindustrie, durch Zuwanderung und die Proteste dagegen, gesehen durch die Augen eines langsam erwachsen werdenden Mädchens.
Der Roman wird vorrangig in Ich-Form aus der Sicht von Miv erzählt, dazwischen geschoben mit größeren Abständen Kapitel aus der Perspektive anderer Figuren, insbesondere derjenigen, welche von Miv so genau beobachtet werden. Das ist in meinen Augen auch nicht das einzige Manko in diesem ansonsten sehr gut geschriebenen und sehr berührenden Roman.
Es treten schlicht zu viele Figuren auf, die oft nur eine Nebenrolle spielen. Wenn dann die Perspektive wechselt, ist man zuerst völlig überrascht und dann irritiert, wer das denn nun ist, der jetzt plötzlich erzählt. So gut gelungen das Gemälde dieser Zeit ist, so ausführlich ist es, zu ausführlich. Manchmal verliert der Roman seinen roten Faden, so erscheint es mir. Zu viele Themen werden angerissen: Serienmord, Depression, Ehebruch, Rassismus, Mobbing, Ausgrenzung, Einsamkeit, Gewalt an Frauen, Gleichgültigkeit, Freundschaft, Empathie. Da tritt die Geschichte um den Umzug von Mivs Familie und um den Yorkshire Ripper fast in den Hintergrund, die doch laut Klappentext die Haupthandlung ist, eigentlich aber lediglich den Rahmen bildet.
So war der Roman manchmal etwas langatmig, etwas zäh, wenn man sich mehr Tempo, mehr Spannung gewünscht hätte. Die Figur der Miv war zeitweise etwas sehr naiv dargestellt, zu kindlich für ihr Alter und ihre Umgebung.
Insgesamt aber ein Roman, der interessant ist, fesselt und gut unterhält. Dass die Geschichte um den Ripper auf Tatsachen beruht, macht das Ganze noch ein bisschen gruseliger.
Jennie Godfrey – Unser Buch der seltsamen Dinge
aus dem Englischen von Susanne Keller
dtv, August 2024
Gebundene Ausgabe, 463 Seiten, 23,00 €