Dieser Roman hat alles, was ein Buch braucht, um zu Herzen zu gehen, Spannung zu erzeugen und Empathie zu wecken. Einen einfühlsamen, ruhigen, aber berührenden Schreibstil, ein atmosphärisch dichtes Setting und vor allem ungemein liebenswerte Hauptfiguren.
Henrietta, Anfang Dreißig, Single, dafür mit grantigem Hund zusammenlebend, in vielen Jobs bisher gescheitert, trifft auf Annie, Mitte Sechzig, verwitwet, einsam und sterbenskrank. Die beiden so ungleichen Frauen begegnen sich an Henriettas neuem Arbeitsplatz, dem Café Leben. Dort, dem kleinen an eine Krebsambulanz angeschlossenen Café, hat sie die Aufgabe, Lebensbücher zu schreiben, für diejenigen, die nicht mehr lange zu leben haben und ihren Angehörigen etwas hinterlassen wollen.
Ausgestattet mit einem ziemlich bürokratischen Fragebogen, einer karierten Thermosflasche und wenig bis gar nicht vorhandener Sentimentalität – die absolute Voraussetzung für diese Aufgabe – wartet Henrietta auf die Menschen, die ihr ihre Geschichten erzählen wollen, aus denen sie dann die Lebensbücher gestalten soll.
Einer dieser Menschen ist Annie, die gleich zu Anfang Henrietta damit verblüfft, dass sie von ihrer ertrunkenen Schwester berichtet. Henrietta, mit wenig Einfühlungsvermögen und noch weniger Kommunikationsfähigkeiten gesegnet, fällt es schwer, die Erzählung Annies einfach so hinzunehmen. Sie beginnt zu recherchieren, während Annie immer mehr verfällt, der Krebs sie immer mehr zerstört.
Dabei hätte Henrietta selbst ähnliches zu erzählen. Sie merkt irgendwann, dass sie Annie von ihren eigenen Dämonen berichten möchte, berichten muss.
Jo Leevers, deren Debütroman dieses Buch ist, erzählt all das mit Sensibilität, mit unterschwelligem, sehr leisem Humor, mit Empathie und Verständnis. Sie erzählt eine Geschichte, die kitschig, voller Schmalz und übertriebenem Sentimentalität sein könnte, es aber zu keiner Zeit ist. Ein absolut gelungener, einfühlsamer Roman mit Tiefgang, der nachdenklich macht. Die Themen Sterben, Gewalt in der Ehe, Vergewaltigung, Kindstod, Mobbing und vieles mehr werden einbezogen, ohne dass der Roman damit überladen wäre, die Leserin überfordert.
Eine wunderbare Geschichte, die zu Herzen geht. Gerne mehr von dieser Autorin.
Jo Leevers – Café Leben
aus dem Englischen von Maria Hochsieder
Droemer, November 2022
Gebundene Ausgabe, 320 Seiten, 20,00 €