Ruhige Erzählungen sind es, die in dieser Anthologie versammelt sind. Geschichten, die, wie der Buchtitel verheißt, Abschied zum Thema haben. Abschiede finden in vielfältigen Formen statt, durch Trennung, Verlassenwerden, durch Streit oder Auseinanderleben, durch Tod.
Bernhard Schlink lässt sich Zeit, seine Geschichten zu entwickeln, er erzählt aus dem Leben seiner Figuren, zu denen er seltsam distanziert zu sein scheint. Was auch durch die fast immer fehlende Verwendung von Namen zum Ausdruck kommt, meist handeln in den Erzählungen ein Er oder eine Sie.
Überhaupt wird viel erzählt, viel zurückgeblickt, meist sind die Protagonisten im und am Leben gereift, schauen zurück auf ihr vergangenes Ich, auf die, denen sie begegnet sind und von denen sie sich verabschiedet haben. Dabei führen die Charaktere durchaus den Abschied auch mal selbst herbei, vielleicht sogar durch drastische Mittel.
In der Erzählung „Picknick mit Anna“ geht es um die Beziehung des Protagonisten zu einem Nachbarsmädchen. Dieses Mädchen, Tochter des Hausmeisters, begleitet er von frühester Kindheit an, erst als stiller Beobachter, später als Lehrer, Mentor. Er, auch hier erfahren wir keinen Namen, führt sie hin zu Kunst, Literatur und klassischer Musik. Sie ersetzt ihm Familie, eigene Kinder, Partnerin. „Es war auch nicht nur ein Spiel. Als sie fünfzehn, sechzehn war, waren wir einander so vertraut, wie man einander über die Grenze der Generationen nur vertraut sein kann.“ (S. 43). Es kommt aber der Moment, wo sie lieber mit Gleichaltrigen, mit Freunden zusammen ist. So spitzt es sich langsam, aber dramatisch zu und die Katastrophe geschieht.
Die Art, wie diese Beziehung geschildert wird, sorgt bei der Leserin für Gänsehaut. Die manische Besessenheit des Protagonisten von diesem Mädchen verstört sehr. Und gleichzeitig, durch die Wahl eines Ich-Erzählers ist man nah an, ja geradezu in dem Protagonisten und muss sein Verhalten, seine Gefühle teilen. Gefühle, die er komplett ausblendet, vor sich selbst leugnet und die doch unaufhaltsam zum endgültigen Abschied führen.
In anderen Geschichten Schlinks geht es um Verrat, Untreue und auch um Sprachlosigkeit. Vieles bleibt in den Beziehungen, um die sich die Erzählungen drehen, ungesagt. Auch das ein häufiger Grund, Abschied zu nehmen.
Bernhard Schlink schreibt über Vergangenes, Unwiederbringliches, über Verlust und Trauer, aber auch über Mut, Mut zu Veränderung. Denn Abschied ist immer auch Veränderung. Dabei schaut Schlink hinter die Fassaden, hinter die Gesichter, beleuchtet das, was nicht offensichtlich, aber was spürbar ist im Menschlichen.
Eine Sammlung von Erzählungen, die verstören und gleichzeitig erfreuen, die erschüttern und gleichzeitig beruhigen.
Bernhard Schlink: Abschiedsfarben
Diogenes, Juli 2020
Taschenbuch, 232 Seiten, 24,00 €