Die Frau in den Augen eines Mannes – erschreckende Erzählung aus Irland
Die Bücher dieser irischen Autorin sind immer etwas ganz Besonderes. Bei ihr sitzt jedes Wort, jedes Bild ist präzise gewählt, jeder Satz eine Aussage, die in Erinnerung bleibt.
Das gilt natürlich genauso für dieses neue schmale Bändchen, das nicht mehr ist als eine Erzählung. Gerade einmal 55 mit großer Schrift bedruckte Seiten umfasst diese Geschichte, in der es um einen Mann und sein Frauenbild geht.
Wir begleiten diesen Mann auf dem Weg in seinen Feierabend, folgen seinen Gedanken während der Busfahrt, beobachten ihn beim Essen und Trinken. Und wir erleben seine Erinnerungen an die Frau, die er eigentlich an diesem Tag heiraten wollte.
Doch sie hat ihn verlassen, nur weiß er eigentlich bis heute nicht, warum. Während er sich an ihr Kennenlernen erinnert, an die Momente, in denen er sie nicht verstand, in denen sie seine Gewohnheiten, sein Weltbild durcheinanderbrachte, entsteht eine Vorstellung davon, wie eben dieses Weltbild aussieht.
Es sind kleine, normalerweise bedeutungslose Vorkommnisse, die zeigen, wie er aufwuchs, wie er erzogen wurde, welches Beispiel Vater und Bruder ihm boten. Gerade da gibt es diese eine Szene, die so schrecklich ist, dass man sie so schnell nicht wieder vergisst. Es ist vor allem diese Szene, die schonungslos zeigt, woher sein Frauenbild, sein Frauenhass – heute oft mit dem aus dem Altgriechischen stammenden, etwas inflationär genutzten Wort Misogynie bezeichnet – kommt.
So versteht man am Ende sehr wohl, warum die Frau ihn verließ, auch wenn sie das in seinen Augen „reichlich spät“ tat.
Diese Erzählung ist wieder so eindeutig Claire Keegans Stil, wunderbar geschrieben. Und dennoch ist es eben doch kein Roman, es ist wenig Raum für mehr Tiefe in den Figuren, für nuanciertere Charakterisierungen, für mehr Hintergrund. Doch natürlich bleibt auch so diese Geschichte lange im Kopf.
Claire Keegan – Reichlich spät
aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl, April 2024
Gebundene Ausgabe, 59 Seiten, 15,00 €
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