Romane, die wie dieser auf realen Ereignissen basieren, haben mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass man den Ausgang der Geschichte kennt. Dennoch Spannung aufbauen zu können, zeugt also von Talent. Und das trifft auf diesen Roman zu, der die wahre Geschichte von Clärenore Stinnes erzählt, die als erste Frau im Automobil die Welt umrundete. Das immerhin im Jahr 1927!
Fräulein Stinnes ist die Tochter des steinreichen Unternehmers Hugo Stinnes und seiner Frau Cläre. Insbesondere mit der Beziehung zwischen Tochter und Mutter beschäftigt sich der Roman, der sich so nah wie möglich an den tatsächlichen Geschehnissen orientiert, trotzdem aber seine fiktiven Teile hat.
Clärenore Stinnes, nach dem Tod des Vaters entgegen dessen Wunsch von der Mutter von jeder Unternehmensleitung ausgeschlossen, sucht die Herausforderung, sucht die Anerkennung der Mutter. Diese jedoch hält Frauen für minderwertig und bevorzugt ihre Söhne. Damit haben Clärenore und ihre jüngere Schwester Hilde stets zu kämpfen, wobei sich letztere der Mutter unterordnet.
Die Rennfahrerin Clärenore hingegen geht auf Weltumrundung, in einem normalen Personenwagen, in Begleitung zweier Mechaniker und eines Fotografen, Carl-Axel Söderström. Finanziert wird die Reise, die zwei Jahre dauert, von der Automobilindustrie, die sich davon reichlich Werbung erhofft.
Clärenore und Carl-Axel erleben viele Abenteuer auf der Fahrt durch den Iran, durch Russland und China, durch Südamerika und die USA. Sie begegnen freundlich gesonnenen Menschen ebenso wie Räubern und Mördern, wilden Tieren und wilden Eingeborenen. Immer wieder gibt es Schwierigkeiten zu überwinden, was ihnen gemeinsam stets gelingt. Dabei kommen sich Clärenore und Carl-Axel immer näher, obwohl er in Schweden verheiratet ist. Beide versuchen, ihre Beziehung zu verheimlichen, auch weil Clärenores Mutter jeden Skandal gegen ihre Tochter verwenden würde.
Der Roman ist wie gesagt trotz des bekannten Endes spannend, flott und flüssig zu lesen, ja man versinkt geradezu in der Geschichte. Hier stimmt das Zeitkolorit ebenso wie die plastischen und genauen Beschreibungen von Landschaften, Personen und politischen oder historischen Situationen. Mag auch manches ein wenig wie ein Groschenroman wirken, mag es arg viele Phrasen geben (bei so viel rasendem Herz würde jedes EKG verrücktspielen), so sind die Figuren authentisch und lebensecht dargestellt, kann man die Emotionen und Gedanken der Protagonistin stets gut nachempfinden.
Was mir aber vor allem gefiel an diesem fesselnden Roman ist die Tatsache, dass er konsequent, von der ersten bis zur letzten Seite, ausschließlich aus Clärenores Perspektive geschrieben ist. Das ist derzeit geradezu eine Seltenheit, wo multiperspektivische Romane an der Tagesordnung zu sein scheinen. Von daher habe ich schon allein aus diesem Grund den Roman um diese faszinierende Frauengeschichte sehr genossen.
Lina Jansen – Fräulein Stinnes und die Reise um die Welt
Blanvalet, Mai 2022
Gebundene Ausgabe, 446 Seiten, 20,00 €
Deine Rezension macht richtig Lust, sich den Roman als Urlaubslektüre zu bestellen. Ich bin gerade auf der Suche nach (neuen) Büchern, die – im weiten Sinne – die Frauen in unserer Gesellschaft stärken. Meinst du, das könnte auf diesen Roman zutreffen?