Ihren im vergangenen Jahr erschienenen Roman „Wenn du mich heute wieder fragen würdest“ habe ich mit großer Begeisterung gelesen. Er hat lange nachgehallt, nicht nur wegen des Inhalts, sondern vor allem wegen des sehr einfühlsamen Schreibstils der amerikanischen Autorin. Nun hat der Eisele-Verlag auch ihren Debütroman veröffentlicht, der in seiner behutsamen Erzählweise dem anderen Buch in nichts nachsteht.
Erzählt wird die Geschichte von Greta, die Ende der vierziger Jahre in Irland geboren wird, als jüngstes Kind nach vier Brüdern und einer älteren Schwester, Johanna. Die Familie ist arm und muss zum Überleben dem illegalen Lachsfang nachgehen. Das führt zu Unheil und noch größerer Armut, während das Dorf, in dem die Familie lebt, immer einsamer wird. Denn nach und nach wandern die Einwohner ab, entweder in größere Städte oder noch weiter, nach Australien, Neuseeland oder Amerika.
Dorthin reist schließlich auch Greta zusammen mit Johanna und dem jungen Michael, der den umherziehenden Travellern entstammt und zuletzt im Hof der Familie zur Hand ging. Aus der Beziehung dieser drei Menschen zueinander, die zum Zeitpunkt ihres Auswanderns noch blutjung sind, entwickelt sich eine hochdramatische, spannende und sehr berührende Lebensgeschichte.
Über mehr als 60 Jahre verfolgen wir die Ereignisse, erleben Geburten und Tod, sehen Greta als tapfere Jugendliche und Frau, die nie müde wird, für ihre Liebsten zu sorgen, beobachten Johanna bei ihren oft verstörenden Handlungen und sehen Michael beim Arbeiten im tiefen Tunnel unter New York.
Mary Beth Keane erzählt das mit sehr viel Einfühlungsvermögen, mit Verständnis und Empathie, ohne unnötig auf Tränendrüsen zu drücken, ohne Kitsch oder Schmalz. Behutsam, geruhsam entwickelt sich das Leben dieser Familie über mehrere Generationen. Die Schilderungen der enormen Veränderungen, die nicht nur im privaten Leben sich ereignen, sondern auch in der Welt, in Technik, Politik und Geschichte, sind harmonisch eingeflochten, ohne als Info-Dump zu stören oder abzulenken.
Hätte der Roman auch gerne um einige Seiten kürzer sein dürfen, ist manches etwas zu ausführlich beschrieben und hätte ich auch gerne auf den Prolog verzichten können, der unnötigerweise Dinge schon verrät, die erst noch geschehen werden, so ist der Roman als Ganzes ein wirklich gelungenes Werk, insbesondere, wenn man bedenkt, dass es das Debüt der Autorin ist.
Mary Beth Keane – Mit dir bis ans andere Ende der Welt
aus dem amerikanischen Englischen von Heike Reissig
Eisele, September 2022
Gebundene Ausgabe, 464 Seiten, 24,00 €
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