Vermutlich habe ich schon mehrmals erwähnt, dass ich ein großer Fan von figurengetragenen Romanen bin. Ganz besonders, wenn die Protagonist:innen Eigenbrötler, Sonderlinge oder anderweitig skurril sind.
Aber auch die liebenswerteste Figur rettet einen Roman nicht, wenn der Stil langatmig und ausschweifend ist und wenig mitreißend.
Albert Entwistle ist Postbote kurz vor der Pensionierung und Halter einer hochbetagten Katze. Er lebt Zeit seines Lebens im Haus seiner Eltern, die beide längst verstorben sind, auch wenn er das Zimmer seiner Mutter all die Zeit unverändert gelassen hat. Albert trauert sein ganzes Leben lang einer Jugendliebe nach. George, ein Mitschüler, der Alberts Gefühle damals erwiderte, ist seit über 50 Jahren aus Alberts Leben verschwunden. Als nun fast zeitgleich Alberts Katze stirbt und der Tag seiner Pensionierung naht, beschließt er, der sich bislang immer von allen Menschen fernhielt und jeder Unterhaltung möglichst aus dem Weg ging, sein Leben zu ändern. Er beginnt, nach George zu suchen.
Helfen soll ihm dabei Nicole, eine blutjunge alleinerziehende Mutter, die Albert vor allem in die Welt des Internets und der dortigen Möglichkeiten einführt. Nicole, die eine Ausbildung als Kosmetikerin absolviert und auf einen eigenen Salon hofft, ist eine ziemlich unkomplizierte junge Frau, die von der Liebe träumt.
Diese Geschichte könnte wunderschön, zart und spannend zugleich sein. Doch sie ist langatmig erzählt, der Autor verwickelt sich in zu viele unwichtige Kleinigkeiten, wenn er beispielsweise die tägliche Tour des Postboten Haus für Haus beschreibt oder ähnliches. Auch bis die Handlung überhaupt Fahrt aufnimmt, dauert es etwas zu lang, verliert man sich in den Nebensträngen um die Kollegen Alberts. Hinzu kommen abrupte Rückblicke auf die Zeit, in der Albert als Jugendlicher mit George glücklich war, bis zum dramatischen Ende ihrer Freundschaft.
Unabhängig davon, dass es gut ist, dass heute sich viel mehr Romane mit gleichgeschlechtlicher Liebe befassen und diese unvoreingenommen und ebenso einfühlsam schildern wie jede andere Liebesgeschichte, habe ich stets meine Probleme mit Romanen, in denen die Hauptfigur ganz plötzlich jahrzehntealte Gefühle wieder zum Leben erwecken kann. Ich finde dies immer ziemlich unrealistisch, insbesondere, wenn es dem jeweiligen Anderen dann genauso plötzlich ebenso ergeht.
Der Titel des Romans führt meines Erachtens zusätzlich in die Irre, meint man doch, ein humorvolles, witziges Buch vor sich zu haben. Dabei ist diese Geschichte, wiewohl langatmig erzählt, anrührend und berührend, aber keineswegs erheiternd.
Matt Cain – Das geheime Leben des Albert Entwistle
aus dem Englischen von Marie Rahn
Ullstein, August 2021
Klappenbroschur, 432 Seiten, 14,99 €