Das ist wieder einmal so ein Roman, bei dem es schwerfällt, sich ein eindeutiges Urteil zu bilden. Das Thema, dessen sich die in Ost-Berlin geborene Autorin annimmt, ist interessant und kann nicht oft genug angesprochen werden. Der Stil ist modern, rasant, brachial, aber auch verstörend, nicht einfach zu lesen. Die Figuren sind es aber vor allem, die diesen Roman zu einer schwer verdaulichen Lektüre machen.
Die junge Nike, in Berlin beim DAAD arbeitende Jüdin, hadert mit ihrem Leben, mit ihrer Familie, mit sich selbst. Sie hat Erfahrungen hinter sich, die sie physisch und psychisch beschädigt haben, über die sie aber weder mit anderen noch mit sich selbst reflektieren kann. Ganz spontan beschließt sie, für ein Jahr nach Israel zu gehen und sich dort für den DAAD einzusetzen. Sie tauscht mit einer Israelin die Wohnung und findet in Tel Aviv auch recht gut Anschluss an die dortigen Kolleginnen.
Noam, der in Tel Aviv beim Haaretz als Journalist tätig ist und dort eine regelmäßige Kolumne veröffentlicht, ist ein ähnlich zerrissener Charakter. Auch er hat in Kindheit und Jugend schlimmste Erlebnisse erfahren müssen und hat sie bis heute nicht verarbeitet.
Diese beiden jungen Menschen begegnen und verlieben sich. Diese Beziehung, man könnte auch Amour fou dazu sagen, wird ab etwa der Hälfte zweites Thema des Romans. Hauptthema ist in meinen Augen aber die Verarbeitung der Erlebnisse ihrer Vorfahren, Großeltern und Urgroßeltern, in der Shoa. Beide tragen daran, beider Eltern waren und sind davon geprägt. Nike, die durchaus einen Zusammenhang zwischen ihren psychischen Problemen und der Geschichte ihrer Familie, vor allem dem weiblichen Zweig, vermutet, versucht, u.a. in Yad Vashem mehr über das Schicksal ihrer Urgroßmutter Dora herauszufinden. Das, was sie dabei erfährt, lässt sie dann auch mehr Verständnis für Charakter und Verhalten ihrer Großmutter, Doras Tochter, aufbringen.
Bei Noam ist es ebenfalls die mütterliche Linie, die über Generationen hinweg von den Schicksalen der Vorfahren geprägt ist. Hinzu kommt die geradezu verwahrloste Kindheit und Jugend Noams, die ihn, so scheint es, zu einem unrettbar Verlorenen macht. „Noam schloss kurz die Augen, um die Stille zu genießen, die gegen seine Ohren drückte, und als er sie wieder öffnete, hatte sich die Welt dunkelblau verfärbt. Auch Noam fühlte sich dunkelblau. Wenn er irgendetwas über seine Seele sagen konnte, dann war es, dass sie diese Farbe trug.“ (S. 75)
Die Art und Weise, wie Mirna Funk dieses Geflecht aus vergangenen und gegenwärtigen Verletzungen in Worte fasst, die Aktionen und Reaktionen ihrer Figuren, die sich aus diesen Verletzungen erklären, all das ist gelungen, geschickt eingebaut und stilistisch brillant. Dennoch hadere ich mit den beiden Hauptfiguren. Nikes Verhalten, ihr „Ganz oder gar nicht“ in so vielen Aspekten ihres Lebens, die vielen Narben, die sie in sich trägt, das ist nachvollziehbar, aus der Figur heraus verständlich. Auch Noam ist durchaus ein präzise aufgebauter Charakter, auch sein selbstzerstörerisches Agieren ist schlüssig. Aber es fällt schwer, die beiden Figuren zu mögen, sie sympathisch zu finden. Insbesondere bei Noam war ich hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Mitleid. Mirna Funk erspart ihren Leser:innen nichts, ihre Schilderungen sind drastisch, schmutzig, fäkal, brutal. Der Roman ist nichts für schwache Seelen, er ist nichts für Leser:innen auf der Suche nach leichter Unterhaltung. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ist er etwas Besonderes.
Mirna Funk – Zwischen du und Ich
dtv, Februar 2021
Gebundene Ausgabe, 302 Seiten, 22,00 €