Ein wirklich ungewöhnliches, ein gewöhnungsbedürftiges Buch. Sowohl was den Haken schlagenden Handlungsverlauf wie auch was den anfangs befremdlichen Schreibstil angeht.
Ich gestehe, während der ersten gut 100 Seiten war ich mehrere Mal versucht, das Buch wegzulegen. Es werden immer wieder neue Charaktere eingeführt, aus neuen Perspektiven erzählt, ohne dass sich die Zusammenhänge erschließen. Die Protagonistin Inna ist verstörend gestört, sie spricht fast nichts, gibt, wenn reden sich nicht vermeiden lässt, einsilbige Antworten.
Die Bilder, die die Autorin mit ihrer harten, unprätentiösen Sprache malt, sind kalt, abweisend, verwirrend, beängstigend. Als Leserin verliere ich mich zwischen diesen einzelnen Handlungssträngen, von denen ich lange nicht erkennen kann, ob sie parallel, chronologisch oder auf ganz verschiedenen Zeitebenen ablaufen.
Aber ab etwa der Hälfte hat mich die Autorin gepackt, von da an konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen. Von dem Moment, als sich die verschiedenen Handlungsfäden langsam aufdröseln, wird die Geschichte hochspannend, regelrecht dramatisch.
Dabei ist es schwierig, den Plot zu erzählen, ohne zu spoilern. Inna Lies, Ende 30, Statikerin, wird in einer Halle, in der sie arbeitet, bei einem wütenden Schneesturm eingeschneit. Zu ihrem Schrecken taucht plötzlich Igor auf, ein völlig Fremder, der angeblich auf einer Wanderung von dem Sturm überrascht wurde und nun bei ihr Unterschlupf sucht. Nach und nach, und ganz gegen ihren Willen, entlockt dieser Igor Inna ihre Geschichte, so wie sie sich daran erinnert und so, wie sie sie zu erzählen bereit ist. Und es gibt vieles, was sie niemandem jemals erzählen wird.
Ein zweiter Handlungsstrang zeigt uns einen verzweifelten und betrunkenen Mann, der unbedingt an einen bestimmten Ort will und dafür alles riskiert. Die dritte Perspektive schließlich erzählt uns die Geschichte der kleinen Marga, 6 Jahre alt. Sie liebt ihr Meerschweinchen Anton und ihr Bentheimer Landschwein Gisela. Marga findet eines Tages auf dem zugefrorenen See einen verletzten Weihnachtsmann, den sie in der Scheune ihrer Eltern versteckt, um Weihnachten zu retten.
Dazwischen eingeschoben sind die verworrenen und verstörenden Erinnerungen von Inna und ihrem Bruder Jenke an ihre Kindheit mit ihrem Vater Henri. Wie all diese Dinge zusammengehören und was die Vergangenheit von Inna und Jenke für ihre Gegenwart und Zukunft bedeutet, das erschließt sich im Laufe des spannenden und erschütternden Thrillers. Dabei drehen sich die Spuren immer wieder, so dass die Leserin zu keiner Zeit imstande ist, die wirkliche Auflösung vorauszuahnen.
Die Autorin blickt in menschliche und geologische Abgründe und man fragt sich, welche erschreckender sind. Sie erspart der Leserin nichts und man steht voller Abscheu vor dem, was Menschen Menschen antun können. Das wird besonders bizarr durch den Gegensatz zur kindlich-naiven, unverdorbenen Weltsicht der kleine Marga, die zwar zweifelt, ihr Urvertrauen aber noch nicht verloren hat. Faszinierend, wie es der Autorin gelingt, diese verschiedenen Perspektiven durch sprachliche Mittel zu zeichnen.
Mein Fazit: ein Roman, der erst nach und nach gewinnt, dann aber umso fesselnder ist. Nicht nur für Thrillerfans eine unbedingte Leseempfehlung.
Nienke Jos – Die Angst der Schweigenden
gmeiner, Januar 2021
Paperpack, 310 Seiten, 15,00 €
Liebe Rena, vielen Dank für deine ausführliche und differenzierte Rezension. Ich bin ganz berührt und beeindruckt! Und gehe jetzt ganz verzaubert schlafen. Danke! Ich freue mich unglaublich darüber. ❣