Dieses Buch ist so zutiefst erschütternd, dass es mich bis in den Schlaf verfolgte. Und es macht derart wütend, dass man gerne mehr tun können würde als nur mit den Zähnen knirschen oder die Fäuste ballen.
Schon oft hat es mich geärgert, wenn bei einer Straftrat, einem Attentat oder ähnlichem dem oder den Tätern nahezu uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit gewährt wurde, für die Opfer sich aber kaum jemand interessierte. Natürlich darf und will ich weder die Namen noch den detaillierten Gesundheitszustand eines Verletzten erfahren, der beispielsweise bei einer Amoktat zu Schaden kam. Aber immer wieder erfährt man alles Mögliche über den Täter, meist mehr, als man überhaupt wissen möchte. Doch die Opfer werden kaum erwähnt. So fände ich es durchaus wissenswert, wie es diesen Menschen auch später noch geht, ob sie genesen sind.
Offensichtlich gab es dieses Missverhältnis aber auch schon im vorletzten Jahrhundert. Und dieser Ungerechtigkeit, dieser Verzerrung der Verhältnisse hat sich die Autorin in ihrem preisgekrönten Buch angenommen.
Vermutlich haben wir alle schon von „Jack the Ripper“ gehört oder gelesen, dem unheimlichen Mörder, der im Jahr 1888 fünf Frauen in London auf grässliche Weise tötete. Über ihn wurde nicht nur zu seiner Zeit in allen Zeitungen in aller Ausführlichkeit berichtet, auch immer seither wird von ihm erzählt, wird seine Geschichte verfilmt, werden Bücher über ihn geschrieben. Doch wer hat je über die fünf ermordeten Frauen gelesen, wer kennt ihre Namen, ihre Geschichten? Diese Geschichten erzählt Hallie Rubenhold.
Und diese fünf Lebensläufe sind schockierend, verstörend, unermesslich traurig. Und dabei repräsentativ für Frauen ihrer Gesellschaftsschicht: „Sie (die Frauen) begannen ihr Leben auf der Sollseite. Nicht nur stammten sie aus Familien der Arbeiterschicht, sie waren außerdem weiblich. Bevor sie noch ihre ersten Worte gesprochen hatten, wurden sie im Vergleich mit ihren Brüdern für weniger wichtig erachtet und galten (…) als eine größere Bürde für die Welt. Ihr Wert war in Frage gestellt, bevor sie ihn beweisen konnten. …“ (S. 363)
Die Autorin hat akribisch die Spuren von Polly, Annie, Elizabeth, Catherine und Mary Jane verfolgt, hat ihre Familiengeschichten ausgegraben, ihre Herkunft und ihre Entwicklung nachvollzogen und das Schicksal dieser Frauen bis zu ihren Todestagen aufgezeichnet. Dabei gleichen sich die Lebensläufe ebenso wie sie sich unterscheiden. Nur eines ist allen gemeinsam: sie hatten, weil sie Frauen waren, zu dieser Zeit wenige bis gar keine Chancen.
Außer über das letzte und jüngste Opfer, Mary Jane, ist viel herauszufinden über die Frauen, das meiste ergab sich wohl aus den Untersuchungsakten zu den Morden sowie aus zeitgenössischen Zeitungsberichten. Letztere jedoch sind stark vorurteilsbehaftet, diskreditieren sie doch ohne jeden Beweis alle Mordopfer als „Prostituierte“. Dies ist jedoch, außer für Mary Jane, nicht erwiesen.
Polly, Annie, Elizabeth und auch Catherine wurden in, für ihre Verhältnisse, behütete Zustände hineingeboren, was sich für Frauen jedoch schlagartig änderte, wenn Vater, Bruder oder Ehemann verstarben und sie allein für sich und die oft zahlreichen Kinder sorgen mussten. Das war auch der Fall, wenn die Frau, aus welchen Gründen auch immer, den Mann verließ. Dann war sie ganz auf sich gestellt, hatte kaum Chancen, von ihrem Mann unterstützt zu werden. Und so landeten diese Frauen, mit oder ohne ihre Kinder, oft im Armenhaus. Die Zustände dort müssen katastrophal gewesen sein, sowohl hygienisch wie auch in sozialer Hinsicht. Die Frauen mussten sich dort regelrecht entblößen, sich untersuchen lassen, mussten harte Arbeit verrichten. Ihre ihnen verbliebenen Kinder – die Kindersterblichkeit in der Arbeiterschicht war zu dieser Zeit immer noch sehr hoch – wurden von ihnen getrennt und wenn überhaupt sahen sie sie erst nach Monaten wieder.
Für viele Frauen war daher die weniger unangenehme Alternative, auf der Straße zu leben und zu „wohnen“. Sie schliefen dort, sie verdienten sich ihr weniges Geld durch Hilfsarbeiten in Haushalten, in Wäschereien. All das war für etliche von ihnen schließlich nur mit Alkohol zu ertragen. Viele dieser Frauen waren oder wurden Alkoholikerinnen, waren derart süchtig, dass sie sich jede Chance auf Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse verdarben.
Darin ähneln sich die Geschichten der fünf Frauen, die man aber deswegen nicht verdammen darf. Wenn man die Schilderungen von Hallie Rubenhold liest, fragt man sich viel eher, wie sie ihr Leben überhaupt ausgehalten haben. Diese absolute Hoffnungslosigkeit, diese unfassbare Ungerechtigkeit, die immer vorhandene Frauenverachtung, die ausgeprägte Misogynie.
Am Ende listet die Autorin unter dem Titel „Ein Leben in Dingen“ die Habseligkeiten auf, die die Frauen bei ihrem Tod bei sich trugen, die ihren ganzen Besitz darstellten. Eine berührende Liste.
Dieses Buch ist für mich ein echtes Highlight im Jahr 2020. Dazu ist es nicht nur inhaltlich fesselnd, sondern auch packend und spannend geschrieben. Die Autorin vermeidet jede Dramatik, Übertreibung oder Wertung und schafft es trotz des sachlichen Tons, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann. Ich werde es noch lange in Erinnerung behalten. Ins Deutsche übersetzt wurde es von Susanne Höbel.
Einziger Wermutstropfen sind die im Laufe des Buches immer häufiger auftretenden Druckfehler. Hierauf hat der Verlag aber bereits reagiert, die nächste Auflage, bei der die Fehler behoben sind, ist in Arbeit.
Hallie Rubenhold – The Five: Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden
Nagel & Kimche, September 2020
Gebundene Ausgabe, 424 Seiten, 24,00 €