Spannende Recherchen um ehemalige jüdische Bewohner eines Berliner Hauses
Man stelle sich das einmal vor: Man lebt in einer großen und schönen Berliner Wohnung, Altbau, mit Stuckdecken. Und erfährt später, dass aus dieser Wohnung, wie auch aus denen auf den anderen Etagen, damals 1942 und später, Frauen und Männer deportiert wurden.
Genau so erging es der Autorin, Historikerin und Herausgeberin. Vor vielen Jahren zog Ingke Brodersen in die Wohnung im vierten Stock des Hauses Berchtesgadener Straße 37 in Berlin-Schöneberg. In die Wohnung, in welcher seinerzeit Martha Conen lebte, auf ihrem Flügel muszierte und von wo sie nach Theresienstadt deportiert wurde, 1942.
Ingke Bordersen begann irgendwann nachzuforschen, auch zu den anderen Bewohnern, die nach und nach in diesem Haus einquartiert wurden, als ihre eigenen Wohnungen „judenrein“ gemacht wurden. Sie suchte nach Informationen zum Besitzer des Hauses, zum Verbleib der Menschen, die entweder rechtzeitig flohen, untertauchten oder in den Vernichtungslagern starben.
In ihrem Buch schildert sie die Situation der Bewohner, erzählt ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Familien. Die Recherche gestaltete sich nicht einfach, gab es doch wenig Aufzeichnungen. Sie forschte in Einwohnermeldeämter, im Arolsen-Archiv, sie befragte Nachkommen und durchforstete viele Listen. Denn die Nationalsozialisten hatten akribisch Buch geführt über ihr Tun.
Immer wieder verwebt Ingke Brodersen die Geschichten der Deportierten mit ihrer eigenen Lebensgeschichte, erzählt sie aus ihrer Kindheit oder von ihren Reisen. Dies hat mich immer ein wenig gestört, passte es meiner Meinung nach nicht zum Thema. Dass sie hingegen Vergleiche zieht zu heutigen Geflüchteten, die sie ehrenamtlich betreut, das macht Sinn und ist nachvollziehbar. Auch wenn dadurch die Gefahr besteht, die damaligen Verbrechen zu relativieren.
Einziges Manko ist die etwas erratische Erzählweise, die dazu führt, dass man immer wieder den Faden bzw. den Überblick verliert und sich auch zahlreiche Wiederholungen einschleichen. Hier hätte ich mir mehr Systematik gewünscht, ein Nacheinander-Erzählen der Einzelschicksale.
Abgesehen von den autobiographischen Teilen und den genannten Mängeln liest sich das Buch spannend wie ein Krimi. Die Recherchen müssen aufregend und hochspannend gewesen sein. Dass die Historikerin damit die Menschen, die in ihrem Haus damals ein Zuhause hatten, dem Vergessen entreißt, ist ein großes Verdienst.
Ingke Brodersen – Lebewohl Martha
Kanon Verlag. April 2023
Gebundene Ausgabe, 288 Seiten, 26,00 €