Einen Roman über die Shoah zu rezensieren, ist eine Gratwanderung. Den Inhalt zu beurteilen, verbietet sich fast und eine Kritik des Stils sollte mit Fingerspitzengefühl erfolgen. Das sind die Gründe, warum mir die Rezension dieses Romans recht schwer fällt.
Santiago Amigorena, 1962 in Argentinien geboren, erzählt in diesem Buch, das in Frankreich für den Prix Goncourt nominiert war, die Geschichte seines eigenen Großvaters. Vicente Rosenberg wandert als junger Mann 1928 von Polen nach Argentinien aus. Er baut sich dort eine Existenz auf und gründet eine Familie. Mit Rosita, die ebenfalls von Einwanderern abstammt, hat er drei Kinder.
Mutter und Geschwister von Vicente leben nach wie vor in Warschau und Anfang der vierziger Jahre heißt das, sie leben im Ghetto. Nur sehr selten erhält Vicente Nachricht, treffen Briefe seiner Mutter ein. Ansonsten erfahren er und seine Freunde Neuigkeiten aus der alten Heimat vor allem aus Zeitungen, die jedoch meist auch mehrere Wochen oder Monate alt sind, wenn sie in Buenos Aires eintreffen.
Der Roman schildert die Jahre von 1941 bis 1945 und wie Vicente mit dem Wissen oder vielmehr dem Nichtwissen um das Schicksal seiner Angehörigen, insbesondere seiner Mutter, umgeht und wie sehr ihn dies belastet, verändert und wie sehr es auch seine Ehe belastet. Immer mehr, mit jedem Brief von seiner Mutter, versinkt er in eine Mischung aus Verzweiflung, Ohnmacht, Hass und Trauer. Und immer mehr verliert er dabei die Worte, er spricht immer weniger und hört schließlich ganz damit auf. Rosita verzweifelt fast daran, doch aufgrund ihrer großen Liebe zu Vicente kämpft sie um ihn.
Der Originaltitel Le Ghetto interieur bringt genau diese Sprachlosigkeit auf den Punkt, das innere Exil, in das sich Vicente begibt, weit mehr als es dem deutschen Titel meines Erachtens gelingt.
Die übergroße Zerrissenheit, die Verzweiflung und die Selbstzweifel Vicentes, all das fängt der Autor mit einer ganz besonderen Sprache ein. Seine Schilderungen von Vicentes Gefühlen, wenn er mit seinem Judentum hadert, wenn er sich fragt, was und wer er eigentlich ist, sind hautnah, berührend und empathisch. „Wie kommt es, dass wir manchmal als Juden, Argentinier, Polen, Franzosen, Engländer, Anwälte, Ärzte, Lehrer, Tangotänzer oder Fußballspieler von uns sprechen? Wie kommt es, dass wir manchmal über uns reden und absolut sicher sind, dass wir nur das Eine sind, etwas Einfaches, Festgelegtes, Unveränderliches, etwas, das wir mit einem einzigen Wort erkennen und beschreiben können?“ (S. 26)
Dennoch habe ich mit dem Roman meine Probleme. Er enthält viele lange Passagen mit Schilderungen historischer Begebenheiten, wie z.B. der Wannsee-Konferenz, die über mehrere Seiten, oft ohne jeden Absatz, ausführlich dargelegt werden. Diese Passagen wirken dann wie Geschichtsunterricht, es fehlt die Einbettung in die Handlung, trotz des offenkundigen historischen Bezugs. Dabei entsteht mehr der Eindruck einer Anklageschrift als der eines Romans. Das Buch an sich wirkt auf mich eher wie ein historischer Vortrag, der sich um die Biographie des Großvaters des Autors rankt. Dabei sind mir manches Mal die Sätze zu bedeutungsschwanger, die Bedeutung zu dick aufgetragen.
Die Botschaft des Romans verstehe ich wohl, das „schlechte Gewissen“ der Überlebenden gegenüber den Ermordeten, die für immer unbeantwortete Frage nach dem Warum. Dies kommuniziert der Autor fraglos. Doch die Form der Botschaft ist es, mit der ich hadere.
Mein Fazit: ein wichtiger Roman, der sich mit einem nie unwichtig werdenden Thema auseinandersetzt, mich jedoch mit einigen Vorbehalten zurücklässt.
Santiago Amigorena: Kein Ort ist fern genug
aufbau Verlag, Juli 2020
Gebundene Ausgabe, 184 Seiten, 20,00 €